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„Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen“ [1]


© Sarah Huber, Erinnerungsstätte Matthias Erzberger.
© Sarah Huber, Erinnerungsstätte Matthias Erzberger.

„Er war zu eigenwillig und zu vielseitig gewesen, um zu einer bestimmten Partei oder Bewegung zu passen, die die Erinnerung an ihn hätte wachhalten können. Für ein weltoffenes, international orientiertes Deutschland war er zu nationalistisch; für Gewerkschaften zu konservativ; für die katholische Kirche zu politisch; und für die Christlich-Demokratische Union (CDU), die Nachfolgerin des Zentrums auf dem Weg zu einer interkonfessionellen Volkspartei, zu katholisch.“[2] Dieser vielseitige Mann war Matthias Erzberger, Zentrumspolitiker, Unterzeichner des Waffenstillstandsvertrags in Compiègne, Verfechter des Versailler Vertrags und Finanzminister in der Weimarer Republik. Vor hundert Jahren, am 26. August 1921, wurde der Politiker ermordet.

 

In seinem Geburtshaus entstand 2004, verantwortet durch das Haus der Geschichte Baden-Württemberg, die Erzberger-Erinnerungsstätte, die im 100. Jahr seines Todes intensiv an den streitbareb Politiker erinnert.

 

 

„Wer ist Erzberger?“  [3]

Am 20. September 1875 wurde Matthias Erzberger als Sohn des Schneiders und Postbeamten Joseph Erzberger und dessen Frau Katharina Erzberger, geborene Flad, geboren.[4]

 

Matthias Erzberger wuchs als einer der wenigen Katholik*innen in einem Dorf auf, das durch das Zusammenleben der zur Hälfte jüdischen, zur anderen Hälfte protestantischen Bevölkerung geprägt wurde. Sein Geburtshaus befand sich im Herzen des jüdischen Lebens von Buttenhausen. Zwei Häuser weiter in die eine Richtung stand die Synagoge, zwei Häuser in die andere Richtung das Rabbinat. Seine Herkunft aus einem ‚Judendorf‘ wurde in späteren Jahren in der Hetzkampagne gegen Erzberger gegen ihn verwendet.

 

Die Fähigkeiten des Jungen wurden bereits zur Schulzeit Erzbergers erkannt und gefördert. Er schlug den Ausbildungsweg zum Volksschullehrer ein. Diese Tätigkeit übte der wissbegierige Schwabe allerdings nur kurz aus, da sein journalistisches und politisches Talent Aufmerksamkeit erregte und weiter gefördert wurde. 1903 gelangte Erzberger als Abgeordneter der Zentrumspartei für den Wahlkreis Biberach in den Reichstag. Dort wurde er einer der ersten Berufspolitiker, der sich trotz seines jungen Alters profilieren konnte.[5]

 

© Sarah Huber, Erinnerungsstätte Matthias Erzberger.
© Sarah Huber, Erinnerungsstätte Matthias Erzberger.

Vom bedingungslosen Unterstützer des Ersten Weltkrieges wandelte sich Erzberger ab 1917 zu einem Kritiker des Krieges, der sich für einen Waffenstillstand einsetzte. Während sich in Berlin die Novemberrevolution abspielte, unterzeichnete Erzberger im Auftrag der Regierung im Wald von Compiègne den Waffenstillstandsvertrag. Zurück in Deutschland setzte er sich für die Unterzeichnung des Versailler Vertrages ein und wurde Finanzminister.[6]

 

Eine Hetzkampagne und ein (obwohl von Erzberger gewonnener) Prozess beendeten vorerst dessen politische Karriere. Um sich auf einen Neustart in der Politik vorzubereiten erholte sich Erzberger im Schwarzwald in Bad Griesbach. Dort wurde er während eines Spaziergangs mit dem befreundeten Abgeordneten Carl Diez am 26. August 1921 von zwei Attentätern, die der antirepublikanischen ‚Organisation Consul‘ angehörten, erschossen.[7]

 

 

Nachwirken

Am 8. Mai 1927 ließ das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold an Erzbergers Geburtshaus eine Erinnerungstafel anbringen. 1933 wurde diese entfernt, 1971 wurde eine neue Tafel am Haus angebracht. [8] 2003/04 erarbeitete das Haus der Geschichte Baden-Württemberg eine Ausstellung für Erzbergers Geburtshaus, die vom Atelier Brückner umgesetzt wurde. Verwaltet wird die Erinnerungsstätte von der Stadt Münsingen, Führungen durch die Ausstellung und die Aufsicht werden von ehrenamtlichen Mitgliedern des Münsinger Geschichtsvereins organisiert.[9]

 

 

© Sarah Huber, Erinnerungsstätte Matthias Erzberger.
© Sarah Huber, Erinnerungsstätte Matthias Erzberger.

Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen

 

Durch eine niedrige Tür tritt man in das Haus, in dem Matthias Erzberger geboren wurde und aufwuchs. Links, an der Garderobe, hängen symbolisch Hut und Mantel: „Erzberger ist zurückgekehrt an seine Geburtsstätte.“ [10] Rechts folgt man einer steilen Treppe in den ersten Stock des Hauses, hier befinden sich die Anmeldung und die ersten Ausstellungsräume. Das schmale Treppenhaus bildet das ‚Gerüst‘ der Ausstellung, hier lernen die Besucher*innen im ersten Stock Erzbergers Eltern kennen. Im zweiten Stock zeigen Bilder Matthias Erzberger selbst mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Kindern.

 

Insgesamt elf thematische Räume wurden durch das Atelier Brückner in dem kleinen Haus gestaltet. Es gibt kaum gegenständliche Quellen, die Erzberger hinterlassen hat. Daher entschied man sich ganz bewusst dafür die Räume des Hauses, die unterschiedliche Lebensstationen des Menschen und Politikers Erzberger symbolisieren, bewusst zu inszenieren und durch visuelle, teilweise auch audiovisuelle Eindrücke, Bezüge herzustellen. Oft bildet ein ausgewähltes Zitat Erzbergers – oder über Erzberger - die Quintessenz der Räume ab.

© Sarah Huber, Raum 1 ‚Anwalt der kleinen Leute‘.
© Sarah Huber, Raum 1 ‚Anwalt der kleinen Leute‘.

Der Raum, der Erzbergers Anfängen als Politiker gewidmet ist, wird von einer digitalen Karte an der Wand dominiert. An einem Stehpult davor kann man sich mittels einer Kugel über die Karte bewegen, die die Orte zeigt, an denen Erzberger zu Beginn seiner Karriere als Politiker Reden hielt. Orte, Daten und Berichte aus der zeitgenössischen Presse lassen sich auf der Karte aufrufen. 

 

Der zweite Raum widmet sich Erzbergers Rolle als ‚Volksvertreter im Reichstag‘. Die Wände sind bedeckt mit Reichstagsprotokollen. Da es keine Tonaufnahmen aus der Zeit gibt, entsteht so eine Möglichkeit, die Besucher*innen mit Redebeiträgen des Politikers zu umgeben. Einzelne Auszüge können in einem Buch nachgelesen werden, hier unterstützen die Kurator*innen die Besucher*innen auch durch transparente Folien im Buch, auf denen Passagen aus Erzbergers Rede in heutigem Schriftbild über die Reichstagsprotokolle gelegt werden können.

 

 

Ein erster Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf dem Ersten Weltkrieg, drei Räume befassen sich damit. Zunächst wird im Raum ‚Erster Weltkrieg‘ Erzbergers Rolle als Koordinator der deutschen Auslandspropaganda dargestellt. Raum 4 nimmt die Besucher*innen dann ganz direkt und hörbar mit zum ‚Waffenstillstand von Compiègne‘, den er als Vertreter der alten und neuen Regierung am 11. November 1918 unterzeichnete. Der Grundriss des Eisenbahnwagons, indem Erzberger den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnete, ist auf dem Boden angebracht. Hinter Folien, die den Wald symbolisieren, sind wandgroß Fotografien zu sehen, die die Kriegszerstörung in Frankreich zeigen. Der folgende Raum zeigt die ‚Erinnerung an Compiègne‘ – welche Rolle sie in Frankreich und Deutschland spielte und wie der Ort später symbolisch auch von den Nationalsozialist*innen aufgeladen wurde. 

 

© Sarah Huber, Raum 8 ‚Antirepublikanische Hetze‘.
© Sarah Huber, Raum 8 ‚Antirepublikanische Hetze‘.

Ein zweiter Schwerpunkt liegt im zweiten Obergeschoss des Hauses. Nachdem Raum 6 sich mit dem ‚Versailler Vertrag‘ befasst und Raum 7 die ‚Reichsfinanzreform‘ darstellt – auf den von Erzberger durchgeführten Reformen baut bis heute in grundlegenden Punkten das deutsche Steuersystem auf[11] - stellt der folgende Raum durch Quellen und die Inszenierung mit ‚Flüstertüten‘ die ‚Antirepublikanische Hetze‘ gegen Erzberger dar. Der folgende Raum zum Thema ‚Politischer Mord‘ wird von einem großformatigen Tatortfoto dominiert. In einem Asservatenschrank können Besucher*innen verschiedene Beweise aus den Ermittlungen nach Erzbergers Ermordung einsehen, indem sie die Schubladen herausziehen. Darunter auch ein Auszug aus einem Fernsehinterview von 1965 mit Carl Diez, der ihn am Tag seiner Ermordung begleitete und verletzt überlebte.

 

 

Die letzten Räume der Erinnerungsstätte stellen die Erinnerung an Erzberger ins Zentrum. Raum 10 thematisiert zunächst die ‚Umkämpfte Erinnerung‘. Ein Regal mit Archivboxen ist das zentrale Stück der Inszenierung. Auf der einen Seite können Erinnerungsstücke, die zu Erzberger erstellt wurden, betrachtet werden. Die andere Seite symbolisiert mit den Archivboxen den sich wandelnden Umgang mit der Erinnerung an ihn an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten in Deutschland. Während in der Weimarer Republik zum Gedenken Denkmale errichtet und Straßen nach ihm benannt wurden, wurden im Nationalsozialismus Denkmale zerstört und beispielsweise die Erinnerungstafel an Erzbergers Geburtshaus entfernt. 

 

© Sarah Huber, Raum 10 ‚Umkämpfte Erinnerung‘.
© Sarah Huber, Raum 10 ‚Umkämpfte Erinnerung‘.

Die Zeiten, in denen an Erzberger und sein Leben nicht erinnert wurde, werden durch leere Archivboxen symbolisiert. Im letzten Raum der Ausstellung werden Aussagen aus der Gegenwart über ihn an die Wand projiziert. Diese laden die Besucher*innen auch dazu ein, sich selbst zu überlegen, mit welchem Bild Matthias Erzbergers sie die Erinnerungsstätte verlassen und darüber nachzudenken, welche Bedeutung der streitbare Politiker für uns in der Gegenwart hat.

 

Die Erinnerungsstätte schafft es durch gezielte Inszenierung der wesentlichen Lebensstationen des Politikers, trotz des Mangels an Ausstellungsgegenständen, einen vielseitigen und spannenden Einblick in das Leben und vor allem das politische Wirken von Matthias Erzberger zu geben. Sein 100. Todestag bietet einen guten Anlass den streitbaren Demokraten neu kennenzulernen.

 

Auf Grund der Architektur des Hauses ist nur das erste Stockwerk der Ausstellung barrierefrei zugänglich. Zwei Ausstellungsräume (Raum 4 ‚Waffenstillstand von Compiègne‘ und Raum 8 ‚Antirepublikanische Hetze‘) wurden zwischenzeitlich digitalisiert und sind als 360° Panorama über die Homepage der Erinnerungsstätte und das Haus der Geschichte Baden-Württemberg verfügbar.

 

Ein Beitrag von Sarah Huber

 


Lage und Öffnungszeiten

Erinnerungsstätte Matthias Erzberger, Mühlsteige 21 72525 Münsingen-Buttenhausen

April – Oktober: sonntags und feiertags 13-17 Uhr. Außerhalb der Öffnungszeiten können Besuche und Führungen für Gruppen über das Stadtarchiv vereinbart werden: stadtarchiv@muensingen.de

 

Dank

Herzlichen Dank dem Stadtarchivar und Museumsleiter der Münsinger Museen, Herrn Yannik Krebs, für die freundliche Unterstützung.

 

Literatur

Haus der Geschichte Baden-Württemberg: Matthias Erzberger. Ein Wegbereiter der deutschen Demokratie. Buch zur Dauerausstellung der Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen. Stuttgart 2011.

Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg: Gewidmet: Matthias Erzberger – ein Leben für die Demokratie. Sonderdruck zur Eröffnung der Erzberger-Erinnerungsstätte in Münsingen-Buttenhausen. Momente 3/2004.

Dürr, Benjamin: Erzberger. Der gehasste Versöhner. Biografie eines Weimarer Politikers. Berlin 2021.

 

Weblinks

Haus der Geschichte Baden-Württemberg: Ausstellungen: Erzberger Münsingen-Buttenhausen, https://www.hdgbw.de/ausstellungen/erzberger/.

Stadt Münsingen: Erinnerungsstätte Matthias Erzberger, https://www.muensingen.de/de/Erzberger


Fußnoten:

[1] Matthias Erzberger, 1921. Zitiert nach: DOWE, Christopher: Die Ausstellung. Politischer Mord. In: Haus der Geschichte Baden-Württemberg: Matthias Erzberger. Ein Wegbereiter der deutschen Demokratie. Buch zur Dauerausstellung der Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen. Stuttgart 2011, S. 74.

[2] DÜRR, Benjamin: Erzberger. Der gehasste Versöhner, Biografie eines Weimarer Politikers. Berlin 2021, S. 239f.

[3] Diese Frage wurde in der Hetzkampagne gegen Erzberger genutzt, um den Politiker zu diskreditieren. Im 100. Jahr seiner Ermordung wurde die Parole aufgegriffen und umgewandelt, um auf die Geschichte Erzbergers aufmerksam zu machen.

[4] Vgl. SCHNABEL, Thomas: „Darum allüberall an die segenbringende Arbeit für das Gemeinwohl“ Matthias Erzberger – ein Wegbereiter der Demokratie in Deutschland. In: Momente 3 /2004, S. 7.

[5] Vgl. SCHNABEL, Thomas: „Darum allüberall an die segenbringende Arbeit für das Gemeinwohl“ Matthias Erzberger – ein Wegbereiter der Demokratie in Deutschland. In: Momente 3/2004, S. 7f.

[6] SCHNABEL, Thomas: „Darum allüberall an die segenbringende Arbeit für das Gemeinwohl“ Matthias Erzberger – ein Wegbereiter der Demokratie in Deutschland. In: Momente 3/2004, S. 8ff.

[7] Vgl. DÜRR, Benjamin: Erzberger, S. 204-233.

[8] Vgl. HABICHT, Meike: „Wie materialisiert sich soziales Engagement?“ Interview mit Dr. Paula Lutum-Lenger zur Einrichtung der Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen. In: Momente 3/2004. S. 14.

[9] Vgl. Haus der Geschichte Baden-Württemberg: Kampf und Tod für die Demokratie. Matthias Erzberger. www.erzberger-jahr-2021.de (06.09.2021).

[10] LUTUM-LENGER, Paula: Matthias Erzberger: Eine politische Biografie ausstellen. In: Haus der Geschichte Baden-Württemberg: Matthias Erzberger. Ein Wegbereiter der deutschen Demokratie. Buch zur Dauerausstellung der Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen. Stuttgart 2011, S. 15.

[11] Vgl. LUTUM-LENGER, Matthias Erzberger, S. 17. 


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