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Von der Mine ins Museum

Die außerordentliche Karriere eines Kohlestücks


Bild: Donauschwäbisches Zentralmuseum Ulm / Karl-Siegfried Mühlensiep (CC BY-NC-SA) (übernommen aus museum-digital Baden-Württemberg, Link: https://bawue.museum-digital.de/object/3196 (27.08.2023)).
Bild: Donauschwäbisches Zentralmuseum Ulm / Karl-Siegfried Mühlensiep (CC BY-NC-SA) (übernommen aus museum-digital Baden-Württemberg, Link: https://bawue.museum-digital.de/object/3196 (27.08.2023)).

Im Jahr 1947 nahm die junge Anna Gräbeldinger  auf ihrer Flucht aus der sowjetischen Zwangsarbeit im Donbass nach Ulm ein kleines Stück Anthrazitkohle mit, bewahrte es ihr Leben lag sorgfältig auf und vermachte es nach ihrem Tod einem Museum. Doch warum nahm sie etwas mit auf ihre Flucht, das sie an die Zeit ihrer Zwangsarbeit in einem Kohlebergwerk erinnern musste? Warum bewahrte sie das Stück Kohle so sorgfältig auf und versah es sogar mit einem kleinen Etikett, auf dem sie seine Herkunft notierte? Und weshalb nahm das Donauschwäbische Zentralmuseum in Ulm das Stück nicht nur in seine Sammlungen auf, sondern machte es sogar zu einem Teil seiner Dauerausstellung?

 

Die Geschichte eines Kohlestücks – und wie es in Anna Gräbeldingers Hände geriet

Die Geschichte von Anna Gräbeldingers Stück Kohle begann vor geradezu unvorstellbar langer Zeit. Vor etwa 300 Millionen Jahren, im Erdzeitalter des Karbons, entstand aus pflanzlichen Materialien unter hohem Druck und Luftabschluss die sogenannte Anthrazitkohle[1]. Vielleicht beginnt seine Geschichte aber auch erst zu dem Zeitpunkt, als es abgebaut und auf diese Weise zu einem einzelnen Stück wurde. Oder wurde es erst zu einem Objekt mit einer Geschichte, als Anna es mit auf ihre Flucht nach Deutschland nahm und ihm eine spezifische Bedeutung zumaß?

 

Äußerlich ist das Stück Kohle auf den ersten Blick unscheinbar und kaum größer als ein 2-Euro-Stück, doch glänzt es silber-grau im Licht und hat eine auffällig raue Oberfläche, die auch als „muscheliger Bruch“ bezeichnet wird.[2] Farbe und Oberflächenstruktur sprechen dafür, dass es sich bei Anna Gräbeldingers Kohlestück um die besonders hochwertige Anthrazitkohle handelt, die beim Verfeuern eine sehr heiße Flamme erzeugt und nahezu rückstandslos verbrennt.[3] Anthrazitkohle ist ein begehrtes Brennmaterial und wird unter anderem im Donezbecken beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze abgebaut.[4]

 

Auf der ukrainischen Seite, im Oblast Donezk, leistete  Anna Gräbeldinger zwei Jahre Zwangsarbeit im Kohlebergbau. Das Bergwerk, in dem sie tätig war und wo sie mutmaßlich das Stück Anthrazitkohle abbaute oder auflas, befand sich nahe der Stadt Слов’янськ (Slowjansk)[5], die heute wie vielleicht keine andere Stadt für den Beginn des Russisch-Ukrainischen Kriegs im Donbass steht.[6] Vor 70 Jahren war der Zweite Weltkrieg in Europa gerade zu Ende gegangen, doch für die junge Anna Gräbeldinger war das Ende des Krieges keine Erlösung, sondern der Startpunkt einer traumatischen Phase ihres Lebens, in der sie Deportation, Zwangsarbeit und Flucht durchlitt.

 

Als Tochter einer rumäniendeutschen Gastwirtsfamilie war Anna in der Gemeinde Cenad/Tschanad aufgewachsen.[7] Cenad liegt in der historischen Region Banat, die sich über mehrere Staaten erstreckt. Anna Gräbeldinger und ihre Familie waren Teil der deutschen Minderheit im rumänischen Banat. Sie waren sogenannte Banater Schwaben – eine Gruppe, die zu den Donauschwaben zählt. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Gräbeldingers tatsächlich einen schwäbischen Hintergrund hatten oder Schwäbisch sprachen.[8] Tatsächlich stammten die Banater Schwaben aus ganz verschiedenen Teilen Süddeutschlands, aber auch aus Österreich, Luxemburg und Lothringen.

 

Das „Schwaben“ in der Bezeichnung „Banater Schwaben“ und „Donauschwaben“ hat eine ungeklärte Bedeutung. Möglicherweise hängt es damit zusammen, dass die so Bezeichneten meist über die schwäbische Stadt Ulm und die Donau nach Südosteuropa beziehungsweise ins Banat gelangten. Die Bedeutung der Stadt Ulm für die Geschichte der Donauschwaben unterstreicht heute auch das Donauschwäbische Zentralmuseum, welches im Jahr 2000 in Ulm eröffnete.[9]

 

Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden zwischen 70.000 und 80.000 Banater Schwaben unter Mitwirkung der rumänischen Behörden von den Sowjets[10] temporär entrechtet, enteignet und  deportiert, um für die Schäden zu büßen, die die Sowjetunion im Krieg gegen Deutschland erlitten hatte.[11] Dies bekam auch Anna Gräbeldinger zu spüren. Nachdem Rumänien 1944 unter sowjetische Kontrolle gekommen war, wurde sie im Januar 1945 zur Zwangsarbeit in die Ukraine – damals Teil der Sowjetunion – deportiert.[12] Dort musste sie unter mutmaßlich äußerst harten Bedingungen Anthrazitkohle abbauen. Nach zwei Jahren wagte sie die Flucht und nahm dabei das kleine Kohlestück mit.

 

Ein Andenken an die Zwangsarbeit?

Die Mitnahme des Kohlestücks erscheint zunächst erstaunlich, denn Andenken sollen ja meist an schöne Begebenheiten erinnern. Dennoch könnte man das Kohlestück wohl als Andenken bezeichnen, denn offensichtlich wollte sich Anna Gräbeldinger an die Erfahrung der Deportation und Zwangsarbeit erinnern und sie nicht vergessen. Oft verblassen visuelle oder abstrakte Erinnerungen über die Zeit und erweisen sich als viel weniger beständig als Erinnerungen, die über andere Sinne funktionieren, wie beispielsweise Gerüche, Geschmäcker und Geräusche. Das Stück Kohle könnte mit seiner Materialität, Anfassbarkeit und Haptik eine eben solche Funktion erfüllt haben und als eine Art materieller Speicher des Erlebten fungieren.

 

Im Gepäck von Anna Gräbeldinger gelangte das Kohlestück nach Ulm, wohin diese sich 1947 durchschlug. Sie kehrte nicht in ihre Heimat im Banat zurück, sondern machte sich von Donezk aus auf den Weg nach Deutschland, genauer nach Schwaben. Dorthin waren bereits ihre Familienmitglieder von Rumänien aus geflohen.[13] Somit gingen die Gräbeldingers den umgekehrten Weg, den ihre Vorfahren (vermutlich) während der Auswanderung genommen hatten, mit Ulm als einem Dreh- und Angelpunkt der Migration.

 

Anna Gräbeldinger gelang es, sich in Ulm ein neues Leben aufzubauen. Das Stück Anthrazitkohle bewahrte sie dennoch ein Leben lang auf. Sie fertigte sogar ein kleines Etikett aus Papier an, auf dem sie seine Herkunft und Datierung vermerkte: 1945–47/ Mascernub[?]/ Lager 1018 Slavianst/Russland“[14].

 

Endstation: Das Donauschwäbische Zentralmuseum

Kurz vor ihrem Tod vermachte sie das Kohlestück ihrem Sohn, der es dem Donauschwäbischen Zentralmuseum anbot.[15] Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ein Museum ein ihm angebotenes Familienerbstück annimmt, und noch seltener ist es, dass das fragliche Objekt sofort ausgestellt wird. Anna Gräbeldingers Stück Anthrazitkohle erlebte beides: Das Zentralmuseum nahm es in seine Sammlungen auf und integrierte es in seine Dauerausstellung, wo es bis heute ausgestellt wird. Zusätzlich findet es schriftliche Beachtung im „Führer durch das Donauschwäbische Zentralmuseum“, welcher die Vertreibung von Menschen „in den Donauschwäbischen Siedlungsgebieten […] [z]um Ende des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit“ in den Kontext „eine[r] der größten und unmenschlichsten Bevölkerungsverschiebungen der Geschichte“ seit dem Jahr 1938 einordnet.[16]  Weder Gründe noch Akteure dieser „Bevölkerungsverschiebungen“ werden genannt. Auf diese Weise wird das Schicksal der Donauschwaben zum Teil einer großen transnationalen Leidensgeschichte, in der historische Kausalitäten und Verantwortlichkeiten seltsam diffus erscheinen und die nationalsozialistische Expansions- und Vernichtungspolitik in Osteuropa unerwähnt bleibt.

 

Diese bemerkenswerte „Karriere“ des Kohlestücks erklärt sich möglicherweise dadurch, dass es Zeuge eines bis heute kontroversen Kapitels in der Geschichte der Banater- und Donauschwaben ist.[17] Für Anna Gräbeldinger war ihr Stück Anthrazitkohle der Beweis für die Zwangsarbeit und Deportation, welche bis in die 1980er Jahre von der Sowjetunion geleugnet wurde.[18] Das Donauschwäbische Zentralmuseum macht durch die permanente Ausstellung des Stücks auf das Thema aufmerksam und macht das individuelle Erinnerungsobjekt zugleich zum Teil einer institutionalisierten Erinnerung an ein traumatisches Kapitel der donauschwäbischen Geschichte.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Anna Gräbeldingers Stück Anthrazitkohle aus dem Donezbecken auf ein bewegtes und langes Leben zurückblickt. Es entstand in einem bemerkenswerten chemikalisch-physischen Prozess, schlummerte dann für den größten Teil seines Lebens in der Erde und wurde irgendwann zwischen 1945 und 1947 abgebaut bzw. gebrochen. Es kam in den Besitz einer jungen Frau und wurde für sie zu einem Bedeutungs- und Emotionsträger, fand seinen Weg nach Deutschland, wurde sorgfältig aufbewahrt und schließlich an ein Museum übergeben. Auf diese Weise wurde es zur historischen Quelle, zum Anschauungsobjekt für historisches Lernen und Teil einer Erinnerungskultur. Auch heute ist sein Leben noch nicht vorbei: Jeden Tag aufs Neue wird es von Museumsbesucher*innen angeschaut und für jede*n einzelne*n hat es eine andere Bedeutung, jede*r tritt auf seine ganz individuelle Weise mit ihm in Beziehung.

 

Ein Beitrag von Sonja Friese


Fußnoten:

[1] Vgl. Achten, Christiane: Anthrazit in Böckler [ohne Vorname] et al. (Hgg.): RÖMPP Lexikon Chemie online, Stuttgart, (Thieme) 2009, Link: https://roempp.thieme.de/lexicon/RD-01-05101 (12.01.2023).

[2] Vgl. Ebenda.

[3] Vgl. Ebenda.

[4] Vgl. RÖMPP-Redaktion: Kohle, in Böckler [ohne Vorname] et al. (Hgg.):. RÖMPP Lexikon Chemie online, Stuttgart, (Thieme) 2002, Link: https://roempp.thieme.de/lexicon/RD-11-01450 (12.01.2023).

[5] Vgl. Donauschwäbisches Zentralmuseum Ulm: Kohlestück mit Aufkleber, in museum-digital Baden-Württemberg, Link: https://bawue.museum-digital.de/object/3196 (28.1.2023); Glass, Christian et al. (Hgg.): Räume, Zeiten, Menschen. Führer durch das Donauschwäbische Zentralmuseum, Ulm (Stiftung Donauschwäbisches Zentralmuseum) 2000, S. 59.

[6] Vgl. Barth, Rebecca et al.: Ostukraine im Winter. Wenn wir nicht heizen, wird Oma erfrieren, in: tagesschau.de, Link: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-slowjansk-107.html (29.01.2023).

[7] Vgl. Glass, Führer, S. 50.

[8] Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass sie zu dem kleineren Teil der sog. Banater Schwaben gehörten, die aus dem schwäbischen damaligen Vorderösterreich auswanderten.

[9] Zur Bedeutung der Stadt Ulm für die Donauschwaben vgl. beispielsweise Fata, Martha (Hg.): „Die Schiff stehn schon bereit“. Ulm und die Auswanderung nach Ungarn im 18. Jahrhundert, Stuttgart (Kohlhammer) 2009.

[10] Rumänien verlor während des Zweiten Weltkriegs u.a. durch den Hitler-Stalin-Pakt große Teile seines Territoriums, erlebte anschließend eine faschistische Diktatur, die sich den Achsenmächten zuordnete und kam im Zuge der sowjetischen Offensive 1944 unter sowjetische Kontrolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Rumänien zu einem Satellitenstaat der UdSSR.

[11] Vgl. Ruff, Csilla: Die Deportation. Eine Leidvolle Erfahrung in der Geschichte der Deutschen Minderheit Rumäniens, in Buletin Stiintific, seria A, Fascicula Filologie 20.1 (2011). S: 355–360, hier S. 357 f. Cercel, Christian: Romanian Germans and the Memory of Deportation to the Soviet Union, in: Ursprung, Daniel (Hg.): The German Minority in Romania. Euxeinos – Culture and Governance in the Black Sea Region” 19 (2015), S. 46–51 macht auf die Verbindung der Deportation der Banater Schwaben mit vorherigen Ereignissen, wie beispielsweise der Tatsache, dass viele Banater Schwaben vor 1944 in der Wehrmacht und SS gekämpft hatten, aufmerksam.

[12] Vgl. Glass, Führer, S. 50.

[13] Vgl. Ebenda.

[14] Ebenda.

[15] Vgl. Ebenda.

[16] Glass, Führer, S. 50.

[17] In der Bundesrepublik ist die Erinnerung an die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg relativ fest etabliert und dient bisweilen sogar einem gewissen Opfer- und Ausgleichsmythos (vgl. Hahn, Eva et al.: Die Vertreibung im Deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn u.a. (Schöningh) 2010, S. 23 f.

[18] Vgl. Ruff, Deportation, S. 356.

 



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