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Antikolonialer Widerstand im afrikanischen Geschichtsschulbuch? Ein Blick in kamerunische und namibische Schulbücher – Teil 1


Zahlreiche Forscher*innen haben das Afrikabild und die Darstellung des Kolonialismus in europäischen Geschichtsschulbüchern kritisch untersucht.[1] Doch die Frage, wie Afrika dargestellt und erzählt wird, ist nicht nur für Europa, sondern auch oder vor allem für Afrika selbst relevant – geht es hierbei doch um seine eigene Geschichte und nationale Identitäten. Werden auch in den afrikanischen Geschichtsschulbüchern, wie es noch in zahlreichen europäischen der Fall ist, koloniale Stereotypen und Dichotomien reproduziert? Oder wird antikolonialer Widerstand in einem ganz anderen, heroischen oder gar verklärenden Narrativ erzählt?

 

Thematische und geographische Einschränkungen

Geschichtsschulbücher in Kamerun und Namibia kommen nicht auf eine ähnliche Art und Weise zum Einsatz wie in Europa. Ihr Erwerb ist meistens nicht verpflichtend, denn sie sind für viele Familien zu teuer in der Anschaffung.[2] Dies bedeutet konkret, dass vor allem die Lehrkraft mit den Schulbüchern arbeitet und diese besitzt, nicht aber die Lernenden. Thematisch wird hier der antikoloniale Widerstand analysiert. Während Kolonisierte in deutschen Schulbüchern oft auf die Rolle passiver Opfer reduziert werden, wird bei diesem Thema eher ihre Handlungssouveränität herausgearbeitet. Diese Agency brachten sie auf vielfältige Weise in ihrem Widerstand zum Ausdruck. Doch (wie) wird dieses Potenzial in den kamerunischen und namibischen Schulbüchern genutzt?

 

Kamerun: Die Frage nach Multiperspektivität und Agency

Für Kamerun wurden drei Geschichtsschulbücher untersucht: Upper Primary History for Cameroon (1990), An Illustrated History for G. C. E. Ordinary Level Candidates (2012) und Planète Cameroun Histoire (2020). Sie sind auf Lernende zwischen zwölf und fünfzehn Jahren ausgerichtet (siehe Abbildung 1). [VO1] Welche Personengruppen erhalten eine Stimme in diesen Texten? Sowohl in Upper Primary History als auch in An Illustrated History findet sich lediglich ein darstellender Text, der oberflächliche Gründe für den antikolonialen Widerstand und sein Scheitern auflistet, die Konsequenzen thematisiert und diese mit Beispielen belegt.[3] Dies ist problematisch, denn Quellentexte sind „ein zentraler Ort, in dem lokale Akteur*innen als aktive Subjekte erscheinen können.“[4] Im dritten Schulbuch, Planète, zeigt sich jedoch eine andere Vorgehensweise mit einer vielfältigen Quellenauswahl. Es findet sich beispielsweise eine Erzählung über „La mort de Martin-Paul Samba“, für die als Quelle „D’après les traditions orales“ (nach mündlichen Überlieferungen) angegeben wurde.[5] Dies zeugt von einer hohen Wertschätzung der oralen Tradition. Die Inhalte nehmen so auf die konkrete Lebenswelt der Lernenden Bezug und bieten ihnen ein hohes Identifikationspotenzial. Solche Identifikationsangebote sind entscheidend, um koloniale Dichotomien und das in europäischen Schulbüchern dominierende Opfernarrativ zu überwinden.[6]

Abbildung 1: Überblick über die verwendeten Schulbücher und Raumanalyse Kamerun, Quelle: Viola Oßwald, eigene Auswertung und Darstellung.
Abbildung 1: Überblick über die verwendeten Schulbücher und Raumanalyse Kamerun, Quelle: Viola Oßwald, eigene Auswertung und Darstellung.

 

Da sich sowohl in Upper Primary History als auch in An Illustrated History keine (ver)schriftlich(t)en Quellen, sondern nur Verfassertexte finden, fehlt hier eine ‚authentische‘ Perspektive der Kolonisierten. In Planète hingegen wird die Agency der Kolonisierten bereits im Basiskapitel hervorgehoben. Dieses Kapitel präsentiert Widerstände in ganz Afrika, insbesondere auch die zahlreichen Formen des passiven Widerstandes. Ein Auszug aus einer Monografie des kongolesischen Historikers Elikia M’Bokolo erläutert, dass es zahlreiche Möglichkeiten gab, sich dem kolonialen System zu widersetzen, wie etwa die Flucht in ein anderes Gebiet, das Verheimlichen von Informationen oder die Steuerverweigerung.[7] Hier wird gezeigt, dass es für den Widerstand keines konkreten Auslösers bedurfte, sondern dass das koloniale System an sich ausreichte, um dagegen zu opponieren. Außerdem wird deutlich, dass Widerstände nicht nur vereinzelt auftraten, sondern immer präsent waren und die Kolonialpolitik maßgeblich mitbestimmten.[8]

 

Der Vergleich zum deutschen Schulbuch

Dass der deutsche Geschichtsunterricht in der Region bis nach dem Zweiten Weltkrieg von Kolonialrevisionismus geprägt war, zeigt der Beitrag von Sarah Elisabeth Huber auf diesem Blog. Jedoch weisen deutsche Schulbücher diesbezüglich bis heute gravierende Defizite auf. Sie unterdrücken noch immer häufig die Perspektive der Kolonisierten und zeigen rassistische, eurozentrische, exotische und defizitorientierte Darstellungen – auch in den verwendeten Bildern. Außerdem verwenden sie teilweise unreflektiert negativ konnotierte Begriffe wie etwa „Dritte Welt“, „Entwicklungsland“, „Stamm“ oder „Häuptling“ und reproduzieren damit Vorurteile und Stereotypen.[9] Im Gegensatz dazu zeigt Planète erneut auf vielfältige Weise einen sehr reflektierten Umgang mit der Thematik. Was die Verwendung von Begriffen angeht, fällt auf, dass neutrale Formulierungen wie „roi“ oder „États“[10] benutzt werden, und nicht etwa die herabstufenden Begriffe „Häuptling“ oder „Stamm“. Außerdem finden sich in diesem Werk auf nahezu jeder Seite kleine Vokabelkästen, die diejenigen Begriffe erläutern, die für das Verständnis der Inhalte wichtig sind. So bleibt vor dem Vergleich mit den namibischen Geschichtsschulbüchern vorerst Folgendes festzuhalten: Mit der vielfältigen Quellenauswahl im Schulbuch, dem reflektierten Umgang mit Begriffen sowie einer Agency-Darstellung der Kolonisierten, die das Opfernarrativ überwindet, weist Planète Vorzüge auf, die in europäischen Schulbüchern bis heute viel zu selten zu finden sind.

 

Ein Beitrag von Viola Oßwald

 

Geschichtsschulbücher aus Namibia setzen andere Schwerpunkte, der Vergleich der beiden Länder erscheint besonders lohnend – lesen Sie auch Teil 2 dieses Beitrags!


Quellenverzeichnis – Schulbücher aus Kamerun:

Fomenky, R./Gwanfogbe, M.B.: Upper Primary History for Cameroon. Macmillan Education LTD, London/Basingstoke 1990.

Numfor, Divine N./Beseka, Lyonga P.: An Illustrated History for G. C. E. Ordinary Level Candidates. Bookhouse, Yaounde 2012.

Botnem, Victor Emmanuel/Sono, Ekollo/ Mvele Mbozo’o, Jacques/Le Callennec, Sophie: Planète Cameroun. Histoire 3e Nouveau programme selon l’APC-ESV. Hatier Inter- national, Malakoff 2020.

 

Nachweise:

Anttalainen, Kati: Decolonising the mind? National identity and historical consciousness in Cameroonian history textbooks (Masterthesis). Oulu 2013.

Awet, Kessete: Die Darstellung Subsahara-Afrikas im deutschen Schulbuch. Gesellschaftslehre, Erdkunde, Geschichte und Politik der Sekundarstufe I (Gesamtschule) in Nordrhein-Westfalen. Opladen/Berlin/Toronto 2018.

Bentrovato, Denise: Learning to Live Together in Africa through History Education. An Analysis of School Curricula and Stakeholders’ Perspectives. Göttingen 2017.

Macgilchrist, Felicitas/Müller, Lars: Kolonialismus und Modernisierung. Das Ringen um ‚Afrika‘ bei der Schulbuchentwicklung. In: Aßner, Manuel et al. (Hrsg.): AfrikaBilder im Wandel? Quellen, Kontinuitäten, Wirkungen und Brüche. Frankfurt a. M. 2012, S. 195–208.

Marx, Christoph: Geschichte Afrikas: Von 1800 bis zur Gegenwart. Paderborn 2004.

Moser-Léchot, Daniel: Strukturen afrikanischer Schulgeschichtsbücher. Von der Nationalgeschichte zur globalen Betrachtungsweise. In: Internationale Schulbuchforschung 24/1 (2002), S. 27–54.

Poenicke, Anke: Afrika in deutschen Medien und Schulbüchern. In: Zukunftsforum Politik 29 (2001), S. 5-59.

 

Bilder:

Titelbild: Lange-Diercke – Sächsischer Schulatlas. Afrika, Ehemalige deutsche Schutzgebiete: Kamerun und Togo. Quelle: Anonym Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lange_diercke_sachsen_afrika_ehemalige_schutzgebiete_kamerun.jpg?uselang=de#Lizenz

Abbildung 1: Überblick über die verwendeten Schulbücher und Raumanalyse Kamerun. Quelle: Viola Oßwald, eigene Auswertung und Darstellung.

 


Fußnoten:

[1] Hier sind insbesondere die zahlreichen Forschungsarbeiten von Kessete Awet, Wolfgang Geiger, Anke Poenicke oder Susanne Grindel exemplarisch zu nennen.

[2] Vgl. Moser-Léchot: Strukturen afrikanischer Schulgeschichtsbücher, S. 48; Anttalainen: Decolonising the mind, S. 45 und S. 51. Die Lehrwerke sind insbesondere dann teuer in der Anschaffung, wenn sie in europäischen Verlagen nach europäischen Preisvorstellungen produziert werden und die weiten Transportwege zu einer zusätzlichen Überteuerung beitragen.

[3] Fomenky/Gwanfogbe: Upper Primary History, S. 57-60; Numfor/Beseka: An Illustrated History, S. 30-33.

[4] Macgilchrist/Müller: Kolonialismus und Modernisierung, S. 202.

[5] Botnem/Sono/Mvele Mbozo’o/Le Callenec: Planète Cameroun, S. 73.

[6] Vgl. Anttalainen: Decolonising the mind, S. 51.

[7] Botnem/Sono/Mvele Mbozo’o/Le Callenec: Planète Cameroun, S. 23, Document B.

[8] Vgl. Marx : Geschichte Afrikas, S. 80.

[9] Vgl. Kessete Awet: Die Darstellung Subsahara-Afrikas im deutschen Schulbuch. Gesellschaftslehre, Erdkunde, Geschichte und Politik der Sekundarstufe I (Gesamtschule) in Nordrhein-Westfalen. Opladen/Berlin/Toronto 2018; Anke Poenicke: Afrika in deutschen Medien und Schulbüchern. In: Zukunftsforum Politik 29 (2001), S. 5-59.

[10] Botnem/Sono/Mvele Mbozo’o/Le Callenec: Planète Cameroun, S. 16, S. 18.

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Bild: Max Moisel / Paul Sprigade, Public domain, via Wikimedia Commons. URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5d/Karte_des_Landbesitzes_und_der_Minengerechtsame_in_Deutsch-S%C3%BCdwestafrika.jpg
Bild: Max Moisel / Paul Sprigade, Public domain, via Wikimedia Commons. URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5d/Karte_des_Landbesitzes_und_der_Minengerechtsame_in_Deutsch-S%C3%BCdwestafrika.jpg
Bild: Wikimedia Commons (Lizenz CC0), https://commons.wikimedia.org/wiki/File:092_togo.png (09.06.2023).
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