Die Analyse der drei kamerunischen Geschichtsschulbücher hat gezeigt, dass diese große Unterschiede aufweisen. Jedoch gelingt es insbesondere im Schulbuch Planète, die Handlungssouveränität der Kolonisierten zu betonen, reflektiert mit Begriffen umzugehen und dadurch koloniale Stereotypen zu brechen. Damit ist Planète im Umgang mit der Thematik reflektierter als viele europäische Schulbücher. Doch welche Schwerpunkte setzen demgegenüber namibische Geschichtsschulbücher?
Namibia: Die Frage nach Multiperspektivität
Für Namibia wurden ebenfalls drei Geschichtsschulbücher untersucht: Discover History (2011), Platinum History (2016) und Excellent – History Learner’s Book (2017). Sie sind auf Lernende zwischen dreizehn und sechzehn Jahren ausgerichtet (siehe Abbildung 1).
Welche Personengruppen haben in den Quellentexten eine Stimme? Es fällt schnell auf, dass die namibischen Schulbücher viele Quellentexte enthalten. Als Akteure erscheinen vor allem Hendrik Witbooi (siehe Abbildung 1), ein Kaptein der Nama, der heute als Nationalheld betrachtet wird, sowie Samuel Maharero, Gruppenführer der Ovaherero. In allen drei Schulbüchern sind Zitate und Briefe der beiden abgedruckt.[1] Weitere Quellen sind beispielsweise ein Brief eines deutschen Soldaten über die Exekution zweier Chiefs[2], ein Zeitzeugenbericht über die Gewalt und Unterdrückung in den Kolonien[3], ein Brief der Ovaherero Chiefs an die deutschen Kolonialherren[4] sowie eine Gegenüberstellung zweier Sichtweisen auf die Grausamkeit während des Krieges in Form von Aussagen von Maharero und dem offiziellen deutschen Kriegsbericht.[5] Außerdem enthalten alle drei Schulbücher als Quelle den offiziellen Vernichtungsbefehl des deutschen Kommandeurs Lothar von Trothas.[6] In den Quellen überwiegt demnach eine afrozentrische Perspektive, jedoch garantieren zahlreiche Gegenüberstellungen eine fundierte und multiperspektivische Auseinandersetzung mit der Thematik.
Namibia: Die Frage nach agency und die Betonung der nationalen Identität
Dass einige Kolonisierte eine Stimme erhalten, reicht jedoch noch nicht aus, um koloniale Dichotomien zu überwinden. Es muss daher auch in den Blick genommen werden, wie genau die Perspektiven der Kolonisierten funktionieren und inwiefern sich darüber hinaus Identifikationsmöglichkeiten für die namibischen Schülerinnen und Schüler ergeben. Witbooi ist ein Akteur mit starkem identitätsstiftenden Potenzial. Über die sogenannten ‚Schutzverträge‘ soll Witbooi gemäß eines in Discover History abgedruckten Zitats Folgendes gesagt haben: „What is protection? From what are we to be protected? And from what danger and difficulty and need is one king to be protected against another?”[1] Hier wird deutlich, dass Witbooi grundlegende koloniale Strukturen und Denkweisen aufdeckt und die eigene, durch die ‚Zivilisierungsmission‘ proklamierte ‚Unterlegenheit‘ radikal hinterfragt. Seine Fremdsprachenkenntnisse erlaubten es ihm die euphemistische Sprache der Kolonialherren zu durchschauen und er verweigerte auf ganzer Linie die koloniale Unterordnung; vielmehr betonte er seine Autonomie als Staatsoberhaupt und stellte sich auf eine Stufe mit dem Kaiser.
In einem im Schulbuch vorgestellten Projekt wird außerdem deutlich, dass die namibischen Schulbücher auf einen Nation-Building-Prozess abzielen.[2] Im Projekt sollen die Schülerinnen und Schüler das Wappen der Witbooi-Familie betrachten und ihrerseits ein eigenes Familienwappen entwerfen. Das hier gezeichnete Geschichtsbild entspricht dem Verständnis der SWAPO. Die sozialistische South West Africa People’s Organization kämpfte jahrzehntelang gegen die Politik Südafrikas in Namibia, vor allem gegen die Apartheid, und regiert seit den ersten freien Wahlen von 1989 das Land als stärkste Partei[3]– ein Schwerpunkt, der auf diese Weise einzigartig für Namibia und in Kamerun nicht zu finden ist.
Die (fehlende) Überwindung kolonialer Sprache
Für den Bruch mit kolonialen Stereotypen und Dichotomien ist es nötig, auch mit der kolonialen Sprache zu brechen und negativ konnotierte Begriffe zu reflektieren. Die Analyse des kamerunischen Schulbuches Planète im ersten Teil dieses Beitrages hat gezeigt, wie dies gelingen kann. In den drei namibischen Schulbüchern erfolgt der Umgang mit problematischen Begriffen jedoch etwas uneinheitlicher. Beispielsweise wird der Begriff der „Schutztruppe“ in den namibischen Schulbüchern zwar teilweise schon markiert – etwa durch Anführungszeichen oder Fettdruck –, jedoch oft nicht stringent und dadurch willkürlich. Außerdem werden die markierten Begriffe nicht näher erläutert. Hier zeigt sich eine auffällige Gemeinsamkeit mit den meisten deutschen Geschichtsschulbüchern: Auch in diesen Werken wird die problematische koloniale Sprache mit ihren hierarchisierenden Dichotomien reproduziert und werden die Schüler nicht dazu angehalten, diese zu reflektieren.
Was bleibt?
Die vergleichende Analyse hat gezeigt: Die Schwerpunkte in der Darstellung der Widerstände unterscheiden sich stark, besonders international, in Kamerun hingegen auch zwischen den verschiedenen Büchern. In den namibischen Schulbüchern wird die Darstellung der Widerstände gleichzeitig genutzt, um das nationale Bewusstsein und die nationale Identität zu stärken, es geht primär um das Nation-Building. In Kamerun hingegen bricht vor allem Planète radikal mit kolonialen Denkmustern und Dichotomien, nicht zuletzt durch konkrete Offenlegungen und Wertungen des kolonialen Systems.
Wenn verantwortungsbewusst mit Geschichte umgegangen wird, kann der Geschichtsunterricht „ein Kanal für eine Kultur des Friedens, der Menschenrechte und der Demokratie sowie für eine verantwortungsvolle demokratische Staatsbürgerschaft und den interkulturellen Dialog sein.“[4] Die Inhalte von Schulbüchern werden von den Lernenden in besonderem Maße als ‚wahr‘ aufgenommen.[5] Somit kann das Schulbuch den Lernenden nicht nur Inhalte, sondern auch Einstellungen und ganz bestimmte Geschichtsbilder vermitteln. Daher ist es gerade für dieses Medium von entscheidender Bedeutung, dass sich die Darstellung von Geschichte an den von Denise Bentrovato, der Ko-Direktorin der African Association für History Education, formulierten, vielversprechenden Ansätzen orientiert: Sie sollten Diversität betonen, eine Ausgewogenheit zwischen der Geschichte ‚großer und kleiner Leute‘ aufweisen, sich an den Lernenden und ihrer Lebenswelt orientieren, facettenreich und multidimensional sein, zu Debatten anregen und einen Dialog zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart schaffen.[6]
Ein Beitrag von Viola Oßwald
Quellenverzeichnis – Schulbücher aus Namibia:
Cloete, Belinda/Dugmore, Charles: Discover History. Grade 9, Learner’s Book. Heinemann
International, Cape Town u.a. 2011.
Du Preez, A./Fernandez, M./Shaanika, H.:
Platinum History. Grade 8, Learner’s Book. Pear- son Education Namibia, Windhoek
2016.
Van Rensburg, Colin: Excellent History Learner’s Book, Grade 8. Zebra Publishing,
Windhoek 2017.
Nachweise:
Abun-Nasr, Sonia: Namibia, Afrika und die Welt – Geschichtsbilder in namibischen Schulbü- chern vor und nach der
Unabhängigkeit. In: Erdmann, Elisabeth et al. (Hrsg.): Empirische Forschung zum Historischen Lernen. Jahrbuch der internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2010, S.
153–167.
Geiger, Wolfgang/Melber, Henning: Der deutsche Kolonialismus und seine Wirkungen. In: Dies. (Hrsg.): Kritik des deutschen Kolonialismus. Postkoloniale Sicht auf Erinnerung und
Geschichtsvermittlung. Frankfurt a. M. 2021, S. 11–33.
Grewe, Bernd-Stefan/Lange, Thomas: Kolonialismus. Stuttgart 2015.
Poenicke, Anke: Afrika realistisch darstellen: Diskussionen und Alternativen zur gängigen Praxis – Schwerpunkt Schulbücher –. Sankt Augustin 2003.
Bentrovato, Denise: Learning to Live Together in Africa through History Education. An Analysis of School
Curricula and Stakeholders’ Perspectives. Göttingen 2017.
Anttalainen, Kati: Decolonising the mind? National identity and historical consciousness
in Cameroonian history textbooks (Masterthesis). Oulu 2013.
Bilder:
Titelbild: Max Moisel / Paul Sprigade, Public domain, via Wikimedia Commons. URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5d/Karte_des_Landbesitzes_und_der_Minengerechtsame_in_Deutsch-S%C3%BCdwestafrika.jpg
Abbildung 1: Überblick über die verwendeten Schulbücher und Raumanalyse Namibia, Quelle: Viola Oßwald, eigene Auswertung und Darstellung.
Abbildung 2: Henrik Witbooi. Bildrechte: Unbekannt Unknown ; Rechteinhaber: Regierung von DSWA, Public domain, via Wikimedia Commons. URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/37/Witbooi_Hendrik_%28retouched%29.jpg
Fußnoten:
[1] Cloete/Dugmore: Discover History, S. 19.
[2] Du Preez/Fernandez/Shaanika: Platinum History, S. 86.
[3] Vgl. Abin-Nasr: Namibia, Afrika und die Welt, S. 154 und S. 161.
[4] Bentrovato: Learning to Live Together, S. 48 [Übersetzung VO]
[5] Vgl. Anttalainen: Decolonising the mind, S. 104.
[6] Vgl. Bentrovato: Learning to Live Together, S. 51.
[1] Vgl. z.B. Cloete/Dugmore: Discover History, S. 20-23, S. 39f.; Du Preez/Fernandez/Shaanika: Platinum History, S. 76, S. 84, S. 91, S. 100, S. 105; Van Rensburg: Excellent History, S. 52, S. 72.
[2] Cloete/Dugmore: Discover History, S. 28f; Du Preez/Fernandez/Shaanika: Platinum History, S. 80.
[3] Cloete/Dugmore: Discover History, S. 39.
[4] Du Preez/Fernandez/Shaanika: Platinum History, S. 83f.
[5] Ebd., S. 72.
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