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Gestohlene Momente – Unterdrückte Musik aus Namibia

 Am 11. Oktober eröffnete der Stuttgarter Kunstverein Wagenhalle e.V. eine Ausstellung zur Geschichte der namibischen Populär-Musik im Projektraum KVWH am Stuttgarter Nordbahnhof.

 

Plakat zur Ausstellung.
Plakat zur Ausstellung.

 Auf einem sonnigen, staubigen Platz steht ein Mann mit Hut, er hat sich eine Gitarre umgehängt und singt. Weit und breit gibt es keine Bäume oder Gebäude, die ihm Schatten spenden könnten. Sein Publikum ist begrenzt, links ist ein zweiter Mann zu sehen, dessen abgestellter Koffer darauf verweist, dass es sich bei dem Platz um eine Bushaltestelle handeln könnte. In einiger Entfernung stehen zwei unbeteiligte Jugendliche, die offenbar ebenfalls auf etwas warten. Hinter ihnen kann man ein Fahrzeug erkennen, einen Casspir, wie ihn die südafrikanische Polizei benutzte. Unter dem Apartheidsregime wurden diese gepanzerten Truppentransporter zur Niederschlagung von Protesten und Demonstrationen eingesetzt, sie sind zu einem Symbol für die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit geworden.

Die Szene ist auf einer Fotografie festgehalten, die das Werbeplakat der Ausstellung „Stolen Moments – Namibian Music History Untold“ zeigt. Wie in einem Brennglas konzentriere sich auf dieser Aufnahme die Geschichte der namibischen Musik unter der südafrikanischen Herrschaft, so beschrieb es der namibische Botschafter Martin Andjaba bei der Vernissage in Stuttgart. Das Foto erzählt von der Unterdrückung durch Südafrika und der rassistischen Diskriminierung, aber auch von der Beharrungskraft der namibischen Musiker und ihres Publikums.

 

Die Ausstellung, die seit dem 11. Oktober 2021 im Projektraum des Stuttgarter Kunstvereins Wagenhalle zu sehen ist, versteht sich als eine „erinnerungsarchäologische Spurensuche“, die die weitgehend vergessene Geschichte der namibischen Musik der 1950er bis 1980er Jahre erschließen will. Bands wie The Dead Wood, Rocking Kwela Boys, The Dakotas, The Ugly Creatures oder Warmgat waren auch im südafrikanisch beherrschten Namibia äußerst populär. Vom Apartheidsregime wurden viele ihrer Lieder zensiert, unterdrückt oder verboten. Weil es keine Vermarktungsmöglichkeiten für ihre Musik gab, kaum Schallplatten produziert werden konnten, war es nahezu unmöglich von der Musik zu leben. Notgedrungen mussten sich die meisten Musiker*innen wieder anderen Berufstätigkeiten zuwenden.

 

Blick in die Ausstellung. Foto: Bernd-Stefan Grewe.
Blick in die Ausstellung. Foto: Bernd-Stefan Grewe.

An ihre Geschichte will die Ausstellung erinnern, doch es handelt sich keineswegs um eine klassische historische Ausstellung mit ausführlichen Informationen. Als unvorbereiteter Besucher könnte man sich irritiert zeigen, dass die Ausstellung in der vom rostigen Charme geprägten ehemaligen Industriehalle fast gänzlich auf Informationstafeln oder Kontexte verzichtet. Nur am Eingang (mit Corona-Kontrolle) findet sich eine Kurzbeschreibung des mehrjährigen Projekts.

 

Der Verzicht auf eine explizite Kontextualisierung und ausführliche Informationen gehört zum Konzept der Ausstellung, die in ihren Modulen ganz auf die Wirkung der Musik, auf die Hörstationen und auf den lebendigen Ausdruck der Bilder setzt. Statt mit einer klaren Orientierung durch Texte und verfügbarem Kontextwissen ist man auf seine Sinneseindrücke angewiesen. Das mag historisch Interessierte irritieren, öffnet aber für die Kraft der Musik – und genau darauf kommt es hier an.

 

Von Music Halls und "Radio From Outer Space", Foto: Bernd-Stefan Grewe.
Von Music Halls und "Radio From Outer Space", Foto: Bernd-Stefan Grewe.

Zu der Ausstellung beigetragen haben nicht zuletzt Hunderte Namibier*innen, die sich auf Aufrufe in der Zeitung meldeten, um von ihren Erlebnissen und Erinnerungen an die Konzerte und Tanzabende in den Music Halls zu berichten. Ihre Fotos und Geschichten bilden eine wesentliche Grundlage. An neun Sendestationen – „Radio From Outer Space“ – kann man die Zeitzeugeninterviews anhören, die zum jeweiligen Modul passen. Dazu kann man sich als Besucher*in am Eingang ein kleines Radiogerät aushändigen lassen, das einen auf dem Rundgang begleitet. Darüber hinaus gibt es weitere Hörstationen, an denen man ausgewählte Lieder der Bands von I-Pads lauschen kann.[1]

 

Im ersten Modul wird der 2016 unmittelbar vor einer Reise nach Deutschland verstorbene Musiker Ben Molatzi gewürdigt. Seine Lieder hatten wenige Tage später in den Studios der Pop Akademie Mannheim neu eingespielt werden sollen. Sie wurden nur von den „Ethnic Stations“ des südwestafrikanischen Rundfunks ausgestrahlt und auf Bändern archiviert worden. Seine wenigen Platten missfielen der südafrikanischen Zensur und wurden gezielt durch Zerkratzen zerstört, eines dieser zerkratzen Exemplare ist zu sehen.

 

Weitere Module zeigen Filmaufnahmen von Bandauftritten, historische Fotos und eine visuelle Spurensuche, die an die früheren Music Halls führt und sie in großen Farbfotografien präsentiert. Faszinierend sind auch künstlerische Auseinandersetzungen mit der vergessenen Popmusik: So wurden verschiedene namibische Künstler*innen beauftragt, Plattenhüllen für die nie erschienenen Langspielplatten zu entwerfen. Mit der Geschichte der Tanzstile befasst sich eine Videoinstallation, für die Laien ihre Tanzstile vor der Kamera zeigten und dokumentieren ließen. Anlass hierzu war ein großer Tanzabend mit der lange nicht gehörten Popmusik, zu der sich die Tänzer*innen in einem Nebenraum vor einem strahlend weißen Hintergrund ablichten ließen. Eindrücke, die sich beim Betrachten der (stillgestellten) Fotografien bereits abzeichnen, werden angesichts dieser Videos zur Gewissheit: die vergessene und unterdrückte Popmusik Namibias ist noch immer lebendig. Es ist das große Verdienst dieser Ausstellung, sie wieder ans Licht und zu Gehör gebracht zu haben. Die Ausstellung ist nur noch bis zum 21. November in Stuttgart zu sehen, danach geht sie dauerhaft nach Namibia. Wer sich nur ansatzweise für afrikanische Pop- und Jazzmusik, für namibische und südafrikanische Geschichte interessiert, sollte sie unbedingt besuchen.

                                                                                                                                                                                                                                                                         Von Bernd-Stefan Grewe

Gelebter namibischer Pop. Bild: Bernd-Stefan Grewe.
Gelebter namibischer Pop. Bild: Bernd-Stefan Grewe.

„Stolen Moments – Namibian Music History Untold“, 11. Oktober bis 21. November 2021, Kunstverein Wagenhalle Stuttgart.

 

Die Ausstellung war zuvor bereits in Bayreuth, Berlin, Basel und London zu sehen. Weitere Informationen: https://www.kasa.de/service/ausstellungen/detail-ausstellungen/stolen-moments-namibian-music-history-untold/ [zuletzt abgerufen: 12.10.2021]

 

Fußnoten:

[1] Eine empfehlenswerte CD mit ausgewählten Aufnahmen ist an der Kasse für € 15,- zu erwerben.



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