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Die Geschichte der „Schelling“ – Besatzung und Besetzung II

Die Thiepvalkaserne heute. Bild: Marleen Buschhaus.
Die Thiepvalkaserne heute. Bild: Marleen Buschhaus.

Bei der Sanierung des Wohnprojekts Schellingstraße im Sommer 2005 fanden die Bewohner*innen im Dachstuhl zwischen alten Ziegeln und Staub auch Teile von Uniformen mit dem königlich-württembergischen Wappen, Konservendosen aus Indianapolis aus dem Jahr 1945 und französische Briefe von Soldaten.[1] Dinge, die nicht mehr zur heutigen Nutzung passen und die Geschichte des Schelling-Gebäudes doch in Erinnerung riefen.

 

Tübingen wird Garnisonsstadt

Das heutige Hauptgebäude des Wohnprojekt Schellingstraße gehörte zu einem Militärgelände südlich des Hauptbahnhofs. Nachdem 1871 auch Württemberg Teil des Deutschen Reichs wurde, bemühte sich Tübingen um eine militärische Einbindung. Die Stadt schickte an das Kriegsministerium eine „Untertänigste Bitte […] um die Verlegung einer Garnison in die hiesige Stadt[2]. Die Fläche südlich des noch neuen Bahnhofs wurde als perfekter Standort für eine Kaserne befunden,[3] sodass die Bauarbeiten wenig später begannen. Das neue Kasernengebäude wurde nicht im üblichen klassizistischen Stil erbaut. Vielmehr orientierte sich der Architekt an den Formen der Florentiner Hochrenaissance. Auch darüber hinaus bedeutete der Bau eine Neuakzentuierung: Von nun an war Tübingen nicht mehr nur Universitätsstadt, sondern auch Garnisonsstadt. In der Tübinger Chronik wurde der Bezug der Kaserne folgendermaßen kommentiert: „Es beginnt mit diesem Tage ein neuer Abschnitt in der Geschichte der Stadt Tübingen.[4]

 

Nach und nach wurde der langgestreckte Mannschaftsbau für die Soldaten zu einem Komplex aus mehreren Gebäuden erweitert. Unter anderem gab es nun ein eigenes Lazarett, Wohnhäuser für verheiratete Unteroffiziere sowie ein Stabsgebäude in westlicher Verlängerung – der heute zentrale Teil des Wohnprojekts Schellingstraße.[5]

 

Postkarte vom Stabsgebäude verschickt im Februar 1917, Blick vom noch unbebauten Süden. Bild: gemeinfrei.
Postkarte vom Stabsgebäude verschickt im Februar 1917, Blick vom noch unbebauten Süden. Bild: gemeinfrei.

Von Tübingen nach „Deutsch-Südwest“?

Das Kaiserreich warb Soldaten für die deutschen Kolonien in den verschiedenen Garnisonsstandorten an.[6] Auch in der Tübinger Kaserne fühlten sich einige Soldaten angesprochen und bewarben sich um einen Dienst. Zu den häufigsten Gründen zählten ein besserer Lohn, Abenteuergeist, Patriotismus, Profilierung sowie die Suche nach einer neuen Existenz.[7] Das Oberkommando der Schutztruppen war jedoch sehr wählerisch und wollte die Aufnahme von Abenteurern und Glücksrittern vermeiden. Die Zahl der Soldaten, die von Tübingen aus in die Kolonien gingen, lag vermutlich unter 20 (die Nummer der Bewerber dürfte jedoch um einiges höher gewesen sein).[8] Das Tübinger Bataillon stellte im Sommer 1900 für die sogenannte China-Expedition Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften.[9] Auch die Beteiligung eines Tübinger Soldaten bei der Niederschlagung des Nama- und Herero-Aufstandes lässt sich belegen.[10]

 

Soldaten der Alten Kaserne im Ersten Weltkrieg

Während des Ersten Weltkriegs wurde das Tübinger Regiment Ende September 1914 in Nordfrankreich eingesetzt. Dabei machten die deutschen Truppen das Dorf Thiepval dem Erdboden gleich.[11] Insgesamt forderte die Schlacht 72.000 vermisste Soldaten.[12] Im „Dritten Reich“ benannten die Nationalsozialist*innen die Tübinger Kaserne in Thiepval-Kaserne um. Mit diesem Rückgriff sollte den nationalistischen, militaristischen und revanchistischen Zielen des Faschismus symbolischer Ausdruck verliehen werden. Bis heute sind die Namen Thiepval-Platz und Thiepval-Kaserne geläufig. So wurde der Verkauf von Eigentumswohnungen im ehemaligen Mannschaftsgebäude im Jahr 2002 mit dem Slogan „Wohnen in Thiepval“ beworben – angesichts der Historie wenig sensibel.[13]

 

Zwischen Paramilitärs und Familien

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich vieles auf dem Gelände der Kaserne. Der Versailler Vertrag schrieb eine Dezimierung des deutschen Heeres vor, sodass einige Tübinger Kasernengebäude nicht mehr militärisch genutzt wurden. In das Stabsgebäude zog die staatliche Ortspolizei ein. In Teilen des Kasernen-Hauptgebäudes waren nun auch Büros und sogar Familienwohnungen untergebracht.[14]

Ein dunkles Kapitel dieser Zeit ist die Einbindung der Tübinger Kaserne an der Niederschlagung des Ruhraufstands: Im Jahr 1920 riefen linke Parteien und Gewerkschaften als Reaktion auf den rechten Kapp-Putsch zum Generalstreik aus. Paramilitärische Gruppen der Reichswehr schlugen die Aufstände schließlich brutal nieder. Rund 450 Tübinger, darunter viele Verbindungsstudenten, kamen dem Aufruf der Reichswehr nach. Sie sammelten sich an der Kaserne, um von dort aus nach Soest aufzubrechen und sich dort bei der Niederschlagung des Aufstandes zu beteiligen.[15]

 

Kompassanleitung aus dem Zweiten Weltkrieg. Bild: Matthias Möller.
Kompassanleitung aus dem Zweiten Weltkrieg. Bild: Matthias Möller.

Die 25. Infanterie-Division im Nationalsozialismus

Im Nationalsozialismus wurde die Tübinger Kaserne komplett für die NS-Aufrüstungspolitik genutzt und diente als Ausbildungsquartier mehrerer Einheiten. Unter anderem wurden dort Teile der 25. Infanterie-Division der Wehrmachtseinheit aufgestellt, die 1940 am „Blitzkrieg“ gegen Belgien und Frankreich sowie beim „Unternehmen-Barbarossa“ teilnahm.[16] Die 25. Infanterie-Division war am Überfall auf die Ukraine[17] und letztlich auch an den dabei verübten Kriegsverbrechen beteiligt. Beim Rückzug brannte die Einheit Städte nieder und waren nachweislich bei zwei antisemitisch motivierten Massenerschießungen involviert. Im Jahr 2009 war es noch nicht zu einer strafrechtlichen Aufarbeitung gekommen.[18]

 

Displaced Persons und militärischer Drill – die Nachkriegszeit

Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn wurden Kriegsgefangene ins nationalsozialistische Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt. In Tübingen gab es zum Kriegsende über 1000 registrierte Zwangsarbeiter*innen aus Russland, Frankreich, Belgien, Italien, Polen, der Tschechoslowakei und Litauen. Die tatsächliche Zahl mag jedoch höher gelegen haben.[19] Nach der Befreiung Tübingens wurden die ehemaligen Zwangsarbeiter*innen als Displaced Persons in der Thiepval-Kaserne untergebracht. Von dort aus wurden die Menschen repatriiert[20], also in ihre Herkunftsländer zurückgebracht, was bei manchen mehrere Jahre dauerte.[21]

 

Briefe aus den 1950er Jahren. Bild: Matthias Möller.
Briefe aus den 1950er Jahren. Bild: Matthias Möller.

Zwischen der Befreiung Tübingens und dem Jahr 1978 wurde das Thiepval-Gelände für militärische Zwecke der französischen Besatzung genutzt.[22] Davon zeugen auch Briefe, die bei Renovierungsarbeiten im heutigen Wohnprojekt Schellingstraße gefunden wurden. Einige Kommentare und Anmerkungen geben Aufschluss über das Alltagsleben in der Kaserne. Deutlich wird vor allem eins: Die Soldaten warteten sehnlichst auf ihre Heimsendung.[23] So schreibt ein junger Soldat im Jahr 1976 auf einer Postkarte an seine Eltern: „In 112 Tage ist die Entlassung, vorbei die Schinderei, es lebe die Freiheit.“[24]

Im Frühjahr 1978 war es dann schließlich soweit und die letzte französische Brigade feierte mit einer Panzerbrigade über die B28 ihren Abschied.[25]

 

Die Kaserne als Sammelunterkunft für Geflüchtete

Das nun leerstehende Mannschaftsgebäude wurde 1981 notdürftig zu einer Sammelunterkunft für über 400 Geflüchtete renoviert. Die Versorgung war desolat, die gesamte Wohnsituation prekär und eine dringend notwendig gewesene pädagogische und psychologische Betreuung nicht vorhanden.[26] Die katastrophalen Zustände des „Sammellager Thiepval“ sorgten auch über Tübingen hinaus für Schlagzeilen.[27]

 

Letztlich wurde das Gebäude 2002 von einer Balinger Investorengemeinschaft aufgekauft und kostspielig saniert. Heute befinden sich das Tübinger Finanzamt sowie 38 mondäne Wohnungen in der ehemaligen Kaserne.[28] Im ehemaligen Stabsgebäude der Kaserne nebenan vollzog sich jedoch eine ganz andere Entwicklung (Beitrag Teil I).

 

Ein Beitrag von Marleen Buschhaus


Literatur:

Baumgarten, Werner: Ein Lager und seine Menschen – wie Behörden die Freiheit verwalten. In: Henning, Claudia / Wießner, Siegfried (Hgg.): Lager und menschliche Würde. Die psychische und rechtliche Situation der Asylsuchenden im Sammellager Tübingen. Tübingen 1982, S. 11-18.

Burkhardt, Axel: Zwischen Paramilitärs und Familien. Die Alte Kaserne in den 1920er Jahren. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009.

Dean, Isabel: Repatriierung, Emigration oder Einbürgerung? Displaced Persons in der Thiepval-Kaserne nach 1945. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009a.

Dean, Isabel: „Vive la vie sivil“ – Die Franzosen in der Thiepval-Kaserne zwischen Drill und Liebesbriefen. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009b.

Droese, Jennifer / Schröter, Claudia: Produzierte Hoffnungslosigkeit – Die Kaserne als Sammellager für Flüchtlinge. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009.

Ionnidis, Ippo: Die „Forces Francaises en Allemagne“. In: Annemarie Hopp / Bernd Jürgen Warneken: Feinde, Freunde, Fremde. Erinnerungen an die Tübinger „Franzosenzeit“. Tübingen 1995, S. 24.

Kleinhub, Nora / Schneider, Christine: Bauzweck Disziplin. Von der Kaserne zum Wohn- und Geschäftshaus. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009.

Kolata, Jens; „Rücksichtsloses und energisches Durchgreifen“. Die 25. Infanterie-Division und die sowjetische Bevölkerung im Jahr 1941. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009.

Lenk, Titus: Von Südwestdeutschland nach „Deutsch-Südwest“. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009.

Löffler, Paul: Zur Geschichte der Garnison Tübingen und ihrer Truppenteile. Typoskript in der Bibliothek des StAT, Signatur: UM 600. Tübingen o.J.

Möller, Matthias: „Nicht du sollst leben, sondern Deutschland“: Soldaten der Alten Kaserne im Ersten Weltkrieg. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009.

Rüggeberg, Jens: Möchte sie noch einmal sehen. In: Schwäbisches Tagblatt vom 5.1.2005, S. 23.

Schmid, Manfred: Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918-1923. Tübingen 1988.

Starzmann, Holger: „Garnison des Geistes“: Die Anfänge der Militarisierung einer Universitätsstadt. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009.

 

Fußnoten:

[1] Vgl. Matthias Möller: Vorwort. In: Matthias Möller (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009, S. 7.

[2] Stadtarchiv Tübingen A 70/ 2606/12.

[3] Stadtarchiv Tübingen A 70/2606/43a.

[4] Vgl. Tübinger Chronik 29.10.1875

[5] Vgl. Starzmann 2009, S. 21

[6] Vgl. Titus Lenk: Von Südwestdeutschland nach „Deutsch-Südwest“. In: Matthias Möller (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009, S. 24.

[7] Vgl. Hauptstaatsarchiv Stuttgart M 1/4 Bü 535,536, 538, 539, 555, 561-563. 568-570 nach Lenk 2009, S. 25.

[8] Vgl. Lenk 2009, S. 26.

[9] Vgl. Paul Löffler: Zur Geschichte der Garnison Tübingen und ihrer Truppenteile. Tübingen o.J.

[10]  Jens Rüggeberg: Möchte sie noch einmal sehen. In: Schwäbisches Tagblatt vom 5.1.2005, S. 23.

[11] Vgl. Matthias Möller: „Nicht du sollst leben, sondern Deutschland“: Soldaten der Alten Kaserne im Ersten Weltkrieg. In: Matthias Möller (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009, S. 47f.

[12] Vgl. Möller 2009, S. 52.

[13] Vgl. Möller 2009, S. 8.

[14] Vgl. Axel Burkhardt: Zwischen Paramilitärs und Familien. Die Alte Kaserne in den 1920er Jahren. In: Matthias Möller (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009, S. 67ff.

[15] Vgl. Manfred Schmid: Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918-1923. Tübingen 1988, S. 125f.

[16] Vgl. Jens Kolata: „Rücksichtsloses und energisches Durchgreifen“. Die 25. Infanterie-Division und die sowjetische Bevölkerung im Jahr 1941. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009, S. 83f.

[17] Vgl. Kolata 2009, S. 85.

[18] Vgl. Kolata 2009, S. 90ff.

[19] Isabel Dean: Repatriierung, Emigration oder Einbürgerung? Displaced Persons in der Thiepval-Kaserne nach 1945. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009a, S. 113.

[20] Dean 2009a, S. 109.

[21] Dean 2009a, S. 119.

[22] Isabel Dean: „Vive la vie sivil“ – Die Franzosen in der Thiepval-Kaserne zwischen Drill und Liebesbriefen. In: Matthias Möller (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009b, S. 127.

[23] Dean 2009, S. 129.

[24] Jean V. 4.August 1976

[25] Dean 2009, S. 137.

[26] Vgl. Werner Baumgarten: Ein Lager und seine Menschen – wie Behörden die Freiheit verwalten. In: Claudia Henning / Siegfried Wießner (Hgg.): Lager und menschliche Würde. Die psychische und rechtliche Situation der Asylsuchenden im Sammellager Tübingen. Tübingen 1982, S. 11-18.

[27] Jennifer Droese / Claudia Schröter: Produzierte Hoffnungslosigkeit – Die Kaserne als Sammellager für Flüchtlinge. In: Matthias Möller (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009, S. 154.

[28] Kleinhub / Schneider 2009, S. 168.


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