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Napoleon (2023) – Ridley Scotts Trafalgar?


Bild: Jacques-Louis David, Public domain, via Wikimedia Commons.*
Bild: Jacques-Louis David, Public domain, via Wikimedia Commons.*

„Pour les critiques, Napoléon relève plus de Trafalgar que Austerlitz“ („Kritiker sehen Napoleon eher als Trafalgar denn als Austerlitz an“), titelte der Figaro[1] kurz nach Start des Films von Ridley Scott im November 2023. Während französische Kritiker Napoleon stark bemängeln, wird er von der britischen Presse deutlich besser bewertet[2] und erhält von The Guardian sogar fünf Sterne.[3]

 

Napoleon Bonaparte ist kein Fremder auf der großen Leinwand. Neben historischen Produktionen von Abel Gance (1927) versuchten auch Größen des Kinos wie Charlie Chaplin und Stanley Kubrick erfolglos seine Geschichte auf die Leinwand zu bringen. 2023 realisierte der britische Regisseur und Produzent Ridley Scott den Film, doch weshalb sind die Kritiken so kontrovers?

 

Napoleon widmet sich dem Aufstieg und Fall des ehrgeizigen Offiziers Napoleon Bonaparte (1769–1821). Joaquin Phoenix verkörpert Napoleon von seinen Anfängen als Artillerie-Leutnant bei Toulon 1793 über seinen dramatischen Werdegang zum Kaiser der Franzosen bis hin zu Niederlage, Exil und Tod. 158 Minuten Film behandeln 22 Jahre seines Lebens bis 1815 (beziehungsweise bis zu seinem Tod 1821), wobei ein Schwerpunkt auf die Liebesbeziehung zu seiner ersten Ehefrau Joséphine de Beauharnais (1763–1814, verkörpert von Vanessa Kirby) liegt. Das politische Chaos der ersten Republik (1792–1804) und Napoleons Kampf auf Europas Schlachtfeldern während der Koalitionskriege, seine Feldzüge von Ägypten bis Russland wechseln sich so mit Szenen aus Joséphines und Napoleons Beziehungsleben ab. Neben dem Altersunterschied prallen hier Liebe und sozialer Pragmatismus, Obsession und Eifersucht sowie die Frage nach einem Erben auf ein Paar großer Persönlichkeiten.

 

Umsetzung und Besetzung

Technisch gesehen liefert Napoleon eine lange nicht mehr gesehene Bildgewalt. Kulissen und Kostüm sind ansprechend und es wurde viel materieller Aufwand betrieben: In den großen Szenen lassen hunderte Statisten das Geschehen lebendig wirken. Napoleons Krönungszeremonie ist eine Reinszenierung desberühmten Gemäldes von Jacques-Louis David[MB1] . Teure Schlachtszenen sind nicht ohne CGI (Bildsynthese) gedreht, wurden aber mit einem Auge für Details und das Gesamtbild spektakulär aufbereitet.

Für Kritik sorgte hingegen bereits die Besetzung und bereits der Trailer[MB2] . Der historische Napoleon ist zu Filmbeginn 24 Jahre alt, während Joaquin Phoenix mit 49 Jahren fast so alt ist wie Napoleon zum Zeitpunkt seines Todes (51 Jahre).

Schon im Trailer kommt es zu mehreren historischen Fehlern: Napoleon war weder bei der Hinrichtung Marie Antoinettes anwesend, noch beschoss er in Ägypten die Pyramiden. Spielfilme müssen im Gegensatz zu Dokumentationen keinen Anspruch auf vollständige historische Korrektheit haben, dennoch beunruhigt Scotts Antwort Historiker*innen, als er in einem Interview auf Kritik bezüglich der historischen Akkuratheit entgegnete: „How do you know, were you there?“4

 

Zu viel in zu wenig Zeit

22 Jahre Geschichte und Napoleons Schicksal sollen im Film u. a. mithilfe von zwei Nachblenden abgebildet werden: Karriere, Regentschaft, zwei Ehen und über 60 Schlachten. Obwohl ein verstärkter Fokus auf die Dynamik Napoleon – Joséphine gesetzt wird, präsentiert sich der Film Napoleon trotzdem als Biographie über die gesamte Person Napoleon, ein optimistisches Unterfangen in nur 158 Minuten.

Mit dem Kinostart wurde bekannt, dass auf diese Fassung eine fast zwei Stunden längere Fernsehversion exklusiv auf Apple TV erscheinen wird. So erscheint der Kinofilm aber von vornherein  noch lückenhafter, wenn man bedenkt, dass ein ganzer Spielfilm an Inhalt fehlt. Aus pragmatischen Gründen ist dies nicht unverständlich. Fünf Stunden Lauflänge würden ein breites Kinopublikum eher abschrecken. Aber warum dann einen Film drehen, bei dem von vornherein klar ist, dass er als einzelner Film nicht ins Kino passt?

Unter diesem Zeitdruck leidet die Narration: Die Geschichte wirkt besonders in der zweiten Filmhälfte eher wie aneinandergereihte Schlaglichter. Ohne den Kontext und Raum für die Bedeutung dieser Ereignisse werden diese nicht greifbar. Ganz zu schweigen davon, dass bedeutende Teile des Falls Napoleons komplett fehlen, praktisch die ganzen Jahre 1813 und 1814. Es bleibt zudem keine Zeit, die vielen Nebenfiguren zu betrachten. Selbst so schillernde  Figuren wie Ney, Talleyrand oder Dumas treten in wenigen Szenen kurz neben Napoleon auf.

 

Ein eindimensionaler Kaiser

Der wahrscheinlich kontroverseste Aspekt des Films ist aber die Darstellung Napoleons selbst. Phoenix spielt einen kalten, grausamen, außer seinen kindisch impulsiven Momenten fast stoischen Napoleon, der als Verlierer gezeigt wird. Fast peinlich an Joséphine hängend, trifft er einige Entscheidungen seiner Karriere im Film scheinbar ausschließlich wegen ihr (Flucht aus Ägypten, Rückkehr von Elba). Napoleon kritisch darzustellen wäre nicht verwerflich, seit jeher wird Napoleon unterschiedlich beurteilt. Um die Glorifizierung einer historischen Figur interessant zu dekonstruieren, müsste man sie in ihrer Widersprüchlichkeit verstehen und in ihrem Gesamtbild zeichnen.

Der Film lässt hier in zwei entscheidenden Aspekten zu wünschen übrig. Einerseits ist die Figur Napoleon dem Publikum nicht zugänglich. Andererseits unterschlägt Scotts Napoleondarstellung andere Stärken des Diktators. Napoleons zivile Errungenschaften bleiben völlig außen vor und sein militärisches Können wird zwar angesprochen, aber kaum gezeigt. Die Filmabschnitte zu den Koalitionskriegen verpassen es, dem Publikum Napoleons sowohl als strategisches Genie und in seiner Fehlerhaftigkeit zu zeigen. In den Schlachten selbst steht Napoleon meistens still und emotionslos da, gibt einen Feuerbefehl oder reitet anachronistisch bei Waterloo und Borodino mit der Kavallerie ins den Kampf, anstatt den Zuschauer*innen einen Einblick seine Entscheidungen während der Schlachten zu geben. Tragischerweise kann selbst die Szene in Waterloo, bei der noch am ehesten strategische Aspekte der historischen Schlacht enthält, nicht mit der gleichnamigen Produktion aus 1970 von Bondartschuk mithalten. Schließlich fehlt Phoenix‘ Napoleon auch das so oft bezeugte Charisma des Kaisers. Im Film werden wenig Gründe gezeigt, warum die Soldaten Napoleon folgen und die Generäle ihn respektieren sollten. Bei seiner Rückkehr baut der Film sogar darauf und zeigt eine Szene, wie Napoleon die Armee auf seine Seite zieht, wobei kein Kausalzusammenhang dargestellt wird, weshalb einfache Soldaten diesen kalten und impulsiven Feldherrn verehren sollten.

 

Zusammenfassend ist der Film vor allem eines: eine verpasste Chance einen offensichtlich relevanten und gefragten Stoff innovativ, packend und der Geschichte entsprechend zu verfilmen – trotz hohem Budget. Den ganzen Stoff in einem Film  unterbringen zu wollen, führt dazu, dass dem Publikum ohne Kontext und Erklärung Schlaglicht für Schlaglicht präsentiert wird, während ein  stringentes Narrativs fehlt. Dutzende in sich spannende Nebencharaktere haben keine Zeit erzählt zu werden und nicht einmal für Napoleon selbst entsteht Verständnis. Als historisches Drama muss Napoleon keine Dokumentation sein, aber sollte der historischen Figur in ihren Grundzügen gerecht werden.

 

Gerade als Geschichtsinteressierte*r will man so einen seltenen Film mögen und wünscht ihm kommerziellen Erfolg, aber neben den beeindruckenden Visuals überwiegt die problematische Darstellung. Dem Film hätten ein konsequenterer Fokus und das Hören auf historische Berater gutgetan. Es bleibt abzuwarten, ob eine Miniserie von Steven Spielberg auf Basis von Kubricks Skripten diese Kritikpunkte berücksichtigt.

 

 

Ein Beitrag von Philipp Grosshart


Details zum Film auf einen Blick:

Titel: Napoleon

Genre: Spielfilm

Länge: 158 Minuten (Kinofassung)

Erscheinungsjahr: 2023

Regie: Ridley Scott

 

Nachweise:

Bradshaw, Peter: Napoleon review – Joaquin Phoenix makes a magnificent emperor in thrilling biopic. In: The Guardian (15.11.2023), URL: https://www.theguardian.com/film/2023/nov/15/napoleon-review-joaquin-phoenix-emperor-ridley-scott (10.02.2024).

Gelmis, Joseph: An Interview with Stanley Kubrick. Excerpted from "The Film Director as Superstar" (1969), URL: http://www.visual-memory.co.uk/amk/doc/0069.html (08.02.2024).

History Hit: Ridley Scott Breaks Down Battle Scenes From His Movie Napoleon. (2022), URL:  https://youtu.be/zkfebcus_yQ?si=P0AErO3Hdi3CvCSP (08.02.2024). 

Moyet, Vincent: Pour les critiques, Napoléon relève plus de Trafalgar que d’Austerlitz. In: Le Figaro (22.11.2023), URL: https://www.lefigaro.fr/cinema/pour-les-critiques-napoleon-releve-plus-de-trafalgar-que-d-austerlitz-20231122 (10.02.2024).

Razall, Katie: Napoleon’s Ridley Scott on critics and cinema ‘bum ache’. In: BBC News (19.11.2023), URL: https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-67419876 (10.02.2024).

 

Fußnoten:

[1] Moyet, Vincent: Pour les critiques, Napoléon relève plus de Trafalgar que d’Austerlitz. In: Le Figaro (22.11.2023), URL: https://www.lefigaro.fr/cinema/pour-les-critiques-napoleon-releve-plus-de-trafalgar-que-d-austerlitz-20231122 (10.02.2024).

[2] Vgl. Razall, Katie: Napoleon’s Ridley Scott on critics and cinema ‘bum ache’. In: BBC News (19.11.2023), URL: https://www.bbc.com/news/entertainment-arts-67419876 (10.02.2024).

[3] Vgl. Bradshaw, Peter: Napoleon review – Joaquin Phoenix makes a magnificent emperor in thrilling biopic. In: The Guardian (15.11.2023), URL: https://www.theguardian.com/film/2023/nov/15/napoleon-review-joaquin-phoenix-emperor-ridley-scott (10.02.2024).

 

Bilder:

*Jacques-Louis David, Public domain, via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jacques-Louis_David,_The_Coronation_of_Napoleon_edit.jpg bzw. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/08/Jacques-Louis_David%2C_The_Coronation_of_Napoleon_edit.jpg 


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