Ein Familienvater zwischen Staatsmann und Staatsfeind – Der Film De Gaulle (2020)


General de Gaulle am Mikrofon der BBC in London, 1941. Bild: Auteur inconnu/Unknown author (BBC), Public domain, via Wikimedia Commons.**
General de Gaulle am Mikrofon der BBC in London, 1941. Bild: Auteur inconnu/Unknown author (BBC), Public domain, via Wikimedia Commons.**

Nicht nur Napoleon ist aktuell Gegenstand historischer Spielfilme. Auch Persönlichkeiten wie Charles de Gaulle werden derzeit gerne im Medium Film rezipiert und damit einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Ein aktuelles Beispiel von den Französischen Filmtagen 2023 in Tübingen ist der Film De Gaulle (2020) des französischen Regisseurs Gabriel Le Bomin – ein durchaus sehenswerter Film, der aus historischer Perspektive dennoch kritisch eingeordnet werden muss. Wir, zwei TübAix-Studierende, sind nach der Filmvorführung auch mit dem Regisseur Le Bomin ins Gespräch gekommen.

 

 

Ein klarer Fokus

Einen Film über eine Persönlichkeit wie Charles de Gaulle (1890–1970) zu drehen, stellt Filmemacher*innen vor eine zentrale Herausforderung: Was soll gezeigt werden? De Gaulles Erfahrungen im Ersten Weltkrieg? De Gaulle als Anführer der Résistance im Zweiten Weltkrieg? De Gaulle während des Algerienkriegs? Oder gar de Gaulle als Europäer? Auch wenn es der Titel nicht vermuten lässt, konzentriert sich das Biopic auf sechs wichtige Wochen aus de Gaulles Leben: Dem Publikum wird der fürsorgliche Familienvater Charles präsentiert, der in Frankreich im Mai 1940 Karriere im Militär macht. Er steigt vom Colonel zum General auf und wird unter Präsident Paul Reynaud zum Unterstaatssekretär für die Nationale Verteidigung. Als Maréchal Pétain die Kollaboration mit Hitler eingeht, fügt sich de Gaulle nicht der neuen Regierung und geht allein nach London ins Exil, um von dort aus den Kampf weiterzuführen. Währenddessen bangt er um seine Familie, die unter den widrigen Bedingungen versucht, aus Frankreich nach London zu fliehen. Höhepunkt des Films ist der berühmte Appell des 18. Juni 1940 aus London, der zur Bildung der Résistance aufruft. Einen Tag später kann er seine Familie unversehrt in London in die Arme schließen. Der Film endet mit dieser Familienzusammenführung.

 

Ein Familienvater in historisch überzeugender Kulisse

Was macht diesen Film aus? De Gaulle schafft es, eine der Öffentlichkeit weniger bekannte Seite von Charles de Gaulle zu zeigen – die des fürsorglichen Familienvaters und romantischen Ehemanns. Persönliche (Liebes-)Briefe an seine Frau Yvonne und intime Familienmomente sowie die Sorge um die kleine Tochter Anne mit Downsyndrom lassen den als großen Staatsmann erinnerten de Gaulle authentisch, menschlich und nahbar wirken. Das Publikum wird im Verlauf des Films mehrfach emotional eingebunden und fiebert mit de Gaulle und seiner Familie mit. Dadurch bekommt die Entscheidung, den Kampf weiterzuführen und sich der Politik Pétains zu widersetzen, eine zusätzliche, private Dimension. Als de Gaulle als Staatsfeind zum Tode verurteilt wird, werden insbesondere die Konsequenzen für die Familie in den Vordergrund gestellt. Dies verleiht der politischen Entscheidung de Gaulles zum aktiven Widerstand eine Tragweite, die über ihn selbst hinausgeht. Das Publikum wird der emotionalen Achterbahn einer Mutter auf der Flucht ausgesetzt, die sich ohne Vater und mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen über den Ärmelkanal unter Beschuss bis nach London durchkämpft.

Ergreifend ist hier auch die historische Bildgewalt. Das Gesamtbild aus Schauspiel, Requisiten und Komparsen lässt die Szenen realistisch wirken. Der Film besticht durch seinen klaren Fokus auf einen entscheidenden Ausschnitt aus de Gaulles Leben, der durch eine stringente und berührende Handlung kurzweilig erscheint.

 

Ein Gesamtbild, das nicht zu kurz kommen darf

Trotz der Sorgfalt und der erweiterten Perspektive, mit der Regisseur Le Bomin de Gaulle portraitiert, fehlen der Gesamtdarstellung wichtige Elemente, um die französische Geschichte des Zweiten Weltkriegs historisch kritisch und adäquat darzustellen. Die Kollaboration scheint, der Darstellung des Films folgend, nur von Pétain ausgegangen zu sein. Das Vichy-Regime und dessen Unterstützung in der französischen Bevölkerung werden kaum bis gar nicht gezeigt, was den Eindruck erweckt, de Gaulle spreche für ganz Frankreich. Auch die Sätze im Epilog unterstreichen diesen Eindruck:  Ihnen zufolge verdanke es Frankreich de Gaulle, einen Platz am Tisch der Siegermächte zu haben. Der Film läuft dadurch Gefahr, den Résistancemythos, wonach ganz Frankreich den Widerstand unterstützt habe und der in Frankreich bis weit in die 1970er Jahre vorherrschte, zu reproduzieren – über die aktive Kollaboration mit Nazideutschland fiel kein Wort.

Auf diese Anmerkung erwiderte der Regisseur im Gespräch nach dem Film, dass er ein informiertes Publikum voraussetze. In Frankreich mag das Publikum noch über mehr Vorwissen verfügen als in Deutschland, doch bestehen hier zwischen den Generationen große Unterschiede, wie Le Bomin in einer Anekdote selbst erzählte: Als er in der Bretagne während der Dreharbeiten von Jugendlichen gefragt wurde, was er denn drehe, antwortete er: „Einen Film über de Gaulle.“ Die Reaktion der französischen Jugendlichen („Ah, der Flugzeugträger!“) zeigt, dass ein informiertes Publikum, das über historisches und faktenbasiertes Vorwissen verfügt, im Kinosaal nicht vorausgesetzt werden kann. Es muss also die Aufgabe des Films sein, sowohl die Rolle Frankreichs mit der Résistance und der Kollaboration als auch die weitere Wirkung de Gaulles in Frankreich und auch in Europa kurz zu erwähnen. Dadurch könnten die Zuschauenden die Figur de Gaulles besser einordnen. Mit entsprechend angepassten Sätzen im Epilog (und einem Hinweis zu Beginn auf keinen Anspruch auf völlige historische Korrektheit) wäre dies leicht umzusetzen gewesen. Auch wenn Filme zurecht künstlerische Freiheiten haben, ist dennoch zu beachten, dass sie für die Erinnerungskultur relevante Darstellungen schaffen, die das historische Gesamtbild nicht vernachlässigen dürfen.

 

Der Film gewährt einen seltenen, intimen Einblick in das Innere Charles de Gaulles und in sein Familienleben. Das Publikum wird durch die dramatischen Ereignisse im Zweiten Weltkrieg auf der Familienebene emotional eingebunden. Dadurch entsteht ein neues Gesamtbild de Gaulles im Film, wobei die unvollständige Gesamtdarstellung dennoch vom Publikum vor dem Hintergrund des Résistancemythos kritisch betrachtet werden muss.

 

Ein Beitrag von Anna Kerle und Maren Brugger


Details zum Film auf einen Blick:

Titel: De Gaulle

Genre: Biopic

Länge: 109 Minuten

Erscheinungsjahr: 2020

Regie: Gabriel Le Bomin

 

*Bild:

Auteur inconnuUnknown author (BBC), Public domain, via Wikimedia Commons.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Charles_de_Gaulle_au_micro_de_la_BBC.jpg

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/ac/Charles_de_Gaulle_au_micro_de_la_BBC.jpg

 


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