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Strategien für das komplizierte Spiel des Schreibens


„... [der Satz] gefällt mir eine Sekunde später nicht mehr, ... dann mach ich ihn weg...“

 
Schreiben ist wie ein hässliches Entlein. Niemand mag es, weder Schüler noch Lehrer. [1]Kaum verwunderlich, wenn dem Schreiben im Fachunterricht nachweislich kaum Platz eingeräumt wird. Das Abschreiben von der Tafel im telegraphischen Stil dominiert, alles unterhalb einer Satzlänge. Und wenn einmal zusammenhängend geschrieben wird, dann nicht länger als in 4 Minuten Schreibzeit.[2]

 Das folgende Unterrichtsbeispiel verweist auf ein Gegenstück. Es ist auf die langfristige Entwicklung von Schreibroutinen ausgerichtet. Die fachlichen Schreibaufgaben haben einen hohen Grad an Verbindlichkeit. Die Lernenden schreiben viel und erhalten ausreichend Schreibzeit. Nach einigen Stunden zum Thema „Beweisführung in der Geschichte“ und nachdem die Schüler*innen Hinweise zu ihrer „Geschichte“ unterbreitet worden sind, lautet die Schlussaufgabe zu einem Skelettfund: „Schreibe einen eigenen Absatz, in dem du deine Antwort auf das Geheimnis der Skelette gibst.“

Eine Schülerin grübelt, sie kämpft mit sich, schreibt etwas, grübelt und schreibt wieder. Das Ergebnis ist entgegen der Erwartung dünn ausgefallen. Ich fragte nach, was ihr durch den Kopf geht, wenn sie schreibt, und sie antwortete wörtlich:

„Also, ich schreibe, ich schreibe meinen Text, fange an mit den Informationen und so, und dann irgendwann komme ich an einen Punkt, da möchte ich weiterschreiben. Und dann habe ich diesen Satz geschrieben und er gefällt mir dann eine Sekunde später nicht mehr, weil ich dann merke, ah ok, das könnte ich jetzt besser machen. Dann mache ich ihn weg, schreibe ihn neu, dann fallen mir nochmal Wörter ein, die ich einfügen kann und dann sitze ich ewig lang an diesem einen Satz und ich könnte schon viel weiter sein, geht aber dann nicht, weil ich mich selber aufhalte.

Die Interviewaussagen stammen von einer Schülerin. Sie ist 12 Jahre alt, also in der 7. Klasse. Mein Interesse galt nun nicht mehr dem Text, sondern „seinem“ Scheitern. Bemerkenswert für mich ist die Klarheit der Selbstbetrachtung einer so jungen Schülerin, und es ist – wie sich später zeigen wird – keine Ausnahme. Sie bleibt nicht die einzige der Klasse mit einem solchen Reflexionsgrad. Lernende wissen in diesem Alter bereits weitgehend , was sie schreibend tun, und dennoch scheitern sie oft mit ihren Texten. Für die Aufgabenentwicklung ist die Fähigkeit der Selbstbeobachtung (Metakognition) ein vielversprechender Ansatz. Zu bemerken, wie etwas (nicht) funktioniert, ist eine hervorragende Voraussetzung, um Schreibfähigkeiten aufzubauen. Metakognition heißt, in der Lage zu sein, sich wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Das müssten Aufgaben anleiten.

 

Neue Perspektiven in der Schreibentwicklungsforschung

Die Schreibentwicklungsforschung kümmert sich um die Frage, was Schreibende tun, wenn sie schreiben. Jüngere Untersuchungen und Kompendien nehmen nicht nur den fertigen Text als Ziel bei einer Methodenentwicklung in den Blick nehmen, sondern gehen von den Erwerbslagen der Lernenden aus, also ihrem Entwicklungsstand und ihren Entfaltungsmöglichkeiten.[3] Das ist eine Wende für die Konstruktion von Schreibaufgaben. Bis heute ist es üblich, das Schreiben top down von Normen wie Textsortenkriterien (Genre) und Operatoren zu organisieren. In den Augen von Sprachdidaktikern wie Helmuth Feilke (2017) sind das defizitorientierte Expertenformate, weil sie Bedingungen stellen, die Schreibnovizen kaum erfüllen können. Ein Scheitern ist vorhersehbar. Zudem werden die Erkenntnisse der Schreibforschung außen vorgelassen, die eigentlich Eingang in die Schreibpraxis finden sollten. Denn sie zeigen deutlich: Schreiben ist hochkomplex. Eine moderne instruktive Schreibmethodik müsste dies berücksichtigen.

Kellogg und Whiteford (2009) verglichen die Leistung während des Schreibens mit der Leistung eines professionellen Schachspielers, der seine Züge vorausdenkt. Es werden Optionen gedanklich durchgespielt und Varianten abgewogen. Jeder mögliche Zug eröffnet erneut x-fache Möglichkeiten. Immer geht es darum, zu erkennen, wohin sich das Spiel entwickeln wird. Schreiben hat hier seine heuristischen Dimensionen. Wie geschrieben wird, klärt sich erst im vorausschauenden Denken und nach jedem Zug neu. Einig ist sich die Forschung darin, dass Schreiben vergleichbar ist mit einem permanenten Problemlöseprozess.[4] Problemlösen gilt als ein Suchprozess, dessen Ende – im Falle des Schreibens der Text – nicht vorhersehbar ist, sondern von dem es nur eine ungefähre Vorstellung gibt. Es ist eine permanente Selbstbefragung, bei der Entscheidungen zu treffen sind, die umgehend die nächsten bedingen. Ein Text besitzt also kein natürliches Ende, sondern es wird von außen gesetzt. Es ist der Schreibende selbst, der den Text für beendet erklärt. Demgegenüber hat eine Aufgabe eine zu erwartende Lösung.

Dreißig Jahre Schreibforschung haben eine beeindruckende Vielfalt an Zugängen zu Schreibmethoden und Förderansätzen hervorgebracht. Sie räumt mit der Idee auf, dass Schreiben aus sich heraus gelernt wird und man sich nur anstrengen müsse, dann ergäbe sich der Rest von alleine. Seit dem breit rezipierten Schreibmodell von Hyes und Flower (1980) wird der Schreibprozess in die Phasen des Planens, Formulierens und Überarbeitens strukturiert. Doch, obwohl sie deutlich machten, dass dieses Modell keine lineare Abfolge wiedergebe und ihr Schema erheblich komplexer ist, findet sich in den Schreibmethodiken fast ausschließlich ein idealer „Ablaufplan“. Sturm (2022) verweist auf Forschungsergebnisse, die diese Linearität nicht nur zusätzlich widerlegen, sondern die in der unvorhersehbaren Abfolge der Phasen eine Bedeutung für das Schreiben erkennen. Demnach ist Schreiben ein hochindividualisierter iterativer Prozess. Es ist ein Prozess, in dem sich die einzelnen Phasen immer wieder selbst zum Thema machen können (Überarbeitung der Planung, Überarbeitung der Formulierung, Planung der Überarbeitung usw.). Es muss nicht zuerst geplant werden, um zu schreiben, etwa Schreiben in einem Zug.[5] Entscheidend für die Qualität des Textes für Schreibanfänger ist nicht, ob sie eine bestimmte Phasierung einhalten, sondern zu welchen Zeitpunkten im Schreibprozess sie strategisch Einfluss nehmen.

Schüler*innen haben große Probleme, Texte planend vorauszuschauen. Sie entwickeln ihre Textstruktur im Schreiben assoziativ oder verkettend. Der kognitive Planungsaufwand ist damit geringer, d.h. es bleiben mehr kognitive Kapazitäten für Inhalte und Textkohärenzen übrig. Schematisierte Schulformate wie das Genre der (kontrastiven) Erörterung sind demgegenüber gerade deswegen so schwer umzusetzen, weil sie die Struktur strikt vorgeben. Sie werden erst spät in der Sekundarstufe unterrichtet, weil bekannt ist, dass das Format kaum bewältigt wird. Tatsächlich können Lernende bereits erheblich früher ihre Ansichten erklären, nutzen aber eher konzessive Formen, die näher an der (konzeptionellen) Mündlichkeit liegen. Das starre Argumentationsformat dürfte Entwicklungsschritte behindern, die Lernende durchlaufen sollten.

Neue Herangehensweisen an Schreibaufgaben

Wie schlagen sich diese Überlegungen in Schreibaufgaben nieder? Ein übergreifender Ansatz ist die Entwicklung und Verwendung von Schreibstrategien. Schreibstrategien sind im Gegensatz zu festgefügten Kriterien für Textformen „zielgerichtete Handlungen“, die je nach individueller Lage und persönlichen Präferenzen modifiziert werden können. Sie portionieren den Schreibprozess und stellen Verfahren dar, um ähnliche Aufgaben lösen zu können. Sturm (2022) systematisiert Schreibstrategien für didaktische Zwecke in prozessbezogene, kognitive und metakognitive Strategien und betont die Notwendigkeit, diese auch explizit zu vermitteln.

Für Lehrkräfte ist ein vertieftes Wissen darüber nötig, wie komplex Schreiben ist und welche Komponenten extrahierbar und für eine Didaktisierung nutzbar sind. Je mehr Schreibstrategien aus diesem Wissen abgeleitet werden können, desto mehr wird die kognitive Last für unerfahrene Schreiber reduziert. Becker-Mrotzek und Böttcher (2020) plädieren für eine „entwicklungsorientierte“ Schreibdidaktik. Sie denken die Schreibaufgaben vom Ende her, indem sie die Schreibkompetenzen in Sequenzen unterteilen. Dabei berücksichtigen sie fortwährend die Realisierungsmöglichkeiten von Lernenden, damit die Schreibanforderungen so formuliert werden können, dass sie für junge Schreibende auch einzulösen sind. Arne Wrobel (2020) bringt die didaktischen Überlegungen und Ergebnisse auf den Nenner: „Unterricht hat vornehmlich die Aufgabe, diese Praxis zu ermöglichen und im Wechsel von Dekomposition und Integration die Teilfähigkeiten didaktisch anzuleiten.“ Das Beispiel am Anfang hat gezeigt, dass junge Lernende bereits wissen, was sie schreibend tun. An diesem Erwerbskontext anzuknüpfen und mit adaptiven Schreibstrategien aus der Dauerschleife des Scheiterns zu kommen, ist ein erfolgversprechender Ansatz.

 

Ein Beitrag von Rainer Lupschina


Literatur (kleine Auswahl):
Becker-Mrotzek, Michael & Böttcher, Ingrid. (2020). Schreibkompetenz entwickeln und beurteilen (9. Auflage). Berlin: Cornelsen.

Feilke, Helmuth. (2017). Schreibdidaktische Konzepte. In Michael Becker-Mrotzek, Joachim Grabowski & Torsten Steinhoff (Hrsg.), Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik (S. 153–171). Münster New York: Waxmann.

Fix, Martin. (2008). Texte schreiben: Schreibprozesse im Deutschunterricht (2. Aufl). Paderborn: Schöningh.

Hartung, Olaf. (2013). Geschichte Schreiben Lernen: Empirische Erkundungen zum konzeptionellen Schreibhandeln im Geschichtsunterricht. Berlin: Lit.

Hayes, John Richard & Flower, Linda. (1980). Identifying the organization of writing processes. Cognitive processes in writing, 3–30.

Kellogg, Ronald T. & Whiteford, Alison P. (2009). Training Advanced Writing Skills: The Case for Deliberate Practice. The American Journal of Psychology, 114(2), 250–266.

Ortner, Hanspeter. (2000). Schreiben und Denken. Tübingen: Niemeyer.

Philipp, Maik. (2014). Selbstreguliertes Schreiben: Schreibstrategien erfolgreich vermitteln. Weinheim Basel: Beltz.

Pohl, Thorsten. (2017). Sekundarstufe I und II. In Michael Becker-Mrotzek, Joachim Grabowski & Torsten Steinhoff (Hrsg.), Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik (S. 89–108). Münster New York: Waxmann.

Sturm, Afra & Weder, Mirjam. (2022). Schreibkompetenz, Schreibmotivation, Schreibförderung: Grundlagen und Modelle zum Schreiben als soziale Praxis (4. Auflage). Seelze: Kallmeyer Klett.

Thürmann, Eike/Pertzel, Eva & Schütte, Anna Ulrike. (2015). Der schlafende Riese: Versuch eines Weckrufs zum Schreiben im Fachunterricht. In Sabine Schmölzer-Eibinger & Eike Thürmann (Hrsg.), Schreiben als Medium des Lernens: Kompetenzentwicklung durch Schreiben im Fachunterricht (S. 17–46). Münster New York: Waxmann.

Wrobel, Arne. (2020). Schreibkompetenz und Schreibprozess. In Helmuth Feilke & Thorsten Pohl (Hrsg.), Schriftlicher Sprachgebrauch Texte verfassen (2. Auflage, S. 85–100). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren GmbH.

 

Fußnoten:



[1] Vgl. Philipp, 2014.

[2] Vgl. Thürmann, 2017.

[3] Vgl. Becker-Mrotzek, Böttcher (2020), Sturm, Weder (2022), Pohl (2017).

[4] Vgl. Fix, 2008.

[5] Vgl. Ortner, 2000.

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Bild: Das Grab von Songea Mbano. Quelle: Pressemappe Salzgeber.
Bild: Das Grab von Songea Mbano. Quelle: Pressemappe Salzgeber.
Bild:  Fotomontage mit Robert Koch, Schlafkranken, Tsetsefliege und dem späteren Heilmittel Bayer 205, Quelle: Koloniales Bildarchiv, Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Bildnummer 042-0247-20.
Bild: Fotomontage mit Robert Koch, Schlafkranken, Tsetsefliege und dem späteren Heilmittel Bayer 205, Quelle: Koloniales Bildarchiv, Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Bildnummer 042-0247-20.
Bild: Anonym Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lange_diercke_sachsen_afrika_ehemalige_schutzgebiete_kamerun.jpg?uselang=de#Lizenz
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Bild: Wikimedia Commons (Lizenz CC0), https://commons.wikimedia.org/wiki/File:092_togo.png (09.06.2023).
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