· 

Essen und Anpassung – das „Kochbuch für Israeliten“ von Josef Stolz (1815)

Wie beschäftigen sich Küchenrezepte mit religiöser Identität? Und was kann uns ein Kochbuch über Assimilationserwartungen im deutschen Südwesten erzählen? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, soll hier eines der ersten gedruckten Kochbücher für Angehörige des Judentums im Mittelpunkt stehen. Es wurde von Josef Stolz (1777-1842), dem Großherzoglich Badischen Mundkoch, 1815 veröffentlicht und trägt den Titel „Kochbuch f[ür] Israeliten, oder praktische Anweisung, wie man nach den jüdischen Religionsgründen alle Gattungen der feinsten Speisen kauscher bereitet.“

Bild: Josef Stolz. Digitalisat unter CC Lizenz.
Bild: Josef Stolz. Digitalisat unter CC Lizenz.

Die darin abgedruckten Rezepte sollten die jüdischen Speisevorschriften berücksichtigen. Diese erklären bestimmte Vierbeiner wie Schweine als unrein. Jüdische Speisegesetze schreiben außerdem vor, dass Milchprodukte nicht zusammen mit Fleisch gegessen werden sollen.[1] Zutaten und Menükombinationen müssen also sorgfältig zusammengestellt werden. Bei Stolz wurde dies folgendermaßen umgesetzt:

 

Während Rezepte zu Schweinefleisch fehlen, gibt es im Kochbuch eine große Anzahl von Zubereitungsvorschlägen für verschiedene Fischarten, Rotwild, Hammel, Rind sowie Geflügel. Zahlreiche Beilagen enthalten im Titel den Zusatz „zu Fleischspeisen“, ebenso gibt es ein Kapitel „Mehlspeisen zu Milchspeisen.“[2] Das Kochbuch war also im Hinblick auf die Speisevorschriften benutzerfreundlich aufbereitet und erleichterte eine schnelle Orientierung.

 

In einem Menü mit mehreren Gängen muss eine Entscheidung getroffen werden, ob Milch oder Fleisch aufgetischt wird. Daher ist es für gesetzestreue Juden und Jüdinnen von Vorteil, wenn die Rezepte mit verschiedenen Zutaten zubereitet werden können. Dies ermöglicht eine größere Flexibilität bei der Zusammenstellung der Menüs. Im „Kochbuch für Israeliten“ wurde deshalb – anders als später im „Rheinischen Kochbuch“, einem weiteren Kochbuch aus Stolz‘ Feder – eine Variante für Butterteig vorgestellt, bei der ersatzweise eine Mischung aus Nierenfett und Gänsefett verwendet wird. Auch verschiedene andere Kochanleitungen enthalten den expliziten Hinweis, dass sie mit Gänsefett statt mit Butter zubereitet werden können.[3] Dadurch waren die Gerichte mit verschiedenen Hauptspeisen kombinierbar.

 

Joseph Stolz zeigt zwar eine profunde Kenntnis jüdischer Speisevorschriften, allerdings wird auf andere religiöse Regeln nicht eingegangen. Am Sabbat soll nicht gearbeitet werden, was auch das Anzünden von Feuer und Herd einschließt. Daher ist es in jüdischen Haushalten üblich, die Gerichte schon vor Beginn des Sabbats (am Freitagabend) langsam garen zu lassen. So kann auch am Ruhetag eine warme Mahlzeit genossen werden.[4] Rezepte mit langen Garzeiten, wie beispielsweise die Rindsrippen, erfordern bei Stolz allerdings weitere Arbeitsschritte: wie das Übergießen mit Wasser oder das Andünsten von Gemüse während des Garprozesses.[5] Diese eignen sich also nicht als Festtagsgerichte bei gesetzestreuen Juden. Im „Kochbuch für Israeliten“ finden sich hauptsächlich regional übliche Rezepte nach jüdischen Speisevorschriften, wobei aber andere Spezifika jüdischer Lebensweise nicht berücksichtigt werden.

 

Stolz gehörte selbst der römisch-katholischen Konfession an.[6] Wie kam es also, dass er ein Kochbuch gemäß jüdischer Speisevorschriften verfasste?

Dazu ist ein Blick in historische Entwicklungen in Südwestdeutschland notwendig. Jüdinnen und Juden konnten aufgrund rechtlicher Rahmenbedingungen im 18. Jahrhundert weder ein Handwerk ausüben noch Landwirtschaft betreiben. Sie waren daher vor allem in Handel und Geldverleih tätig. Zudem mussten sie eine Leibsteuer bezahlen, waren aus Zünften ausgeschlossen und daher meist ökonomisch benachteiligt. Trotzdem gab es in der jüdischen Bevölkerung eine große soziale und wirtschaftliche Bandbreite: Diese reichte von den sogenannten „Betteljuden“ bis hin zu den „Hofjuden“, die ein enges Dienstverhältnis zu einzelnen Fürsten eingingen und daher von deren Gunst und dem Wohlwollen ihrer Nachfolger besonders abhängig waren.[7] Vor dem Hintergrund von Aufklärung und Französischer Revolution verbesserte sich die rechtliche Situation von Jüdinnen und Juden in einigen west- und zentraleuropäischen Staaten.[8] Diesbezüglich wurde auch in Baden seit Ende des 18. Jahrhunderts eine Gesetzesreform erwogen. Dabei wurden hauptsächlich zwei Positionen diskutiert: Entweder sollte eine sofortige rechtliche Gleichstellung erfolgen. Damit würden, so die Erwartung, automatisch soziale Verbesserungen für die jüdische Bevölkerung einhergehen. Oder Juden und Jüdinnen sollten sich diesen Rechtsstatus durch staatlich geförderte Integration „verdienen“.

 

Dabei fiel die Entscheidung im seit 1806 bestehenden Großherzogtum Baden zugunsten der zweiten Lösung aus. Juden und Jüdinnen sollten nachweisen, so die auch in anderen Territorien verbreitete Meinung, dass sie sich durch Erziehung moralisch verbessert hätten und dadurch zu nützlichen Untertanen geworden seien. In mehreren badischen Konstitutionsedikten zwischen 1807 und 1810 wurden daher die Rahmenbedingungen für jüdische Menschen erleichtert. Die volle Gleichberechtigung sollte möglich werden, wenn sie sich in „politischer und sittlicher Bildung“ gleichwertig zeigten und durch die rechtliche Gleichstellung keine Nachteile für andere Staatsbürger entstehen würden. Ergänzend dazu wurde die Schulpflicht für jüdische Kinder eingeführt.[9] Juden und Jüdinnen blieben aber weiterhin vom Gemeindewahlrecht und „von der Gesetzgebung ausgeschlossen.“[10] Besonders die Verwendung der deutschen Sprache in allen Bereichen und die Annahme deutscher Familiennamen durch Juden und Jüdinnen galten in Baden als politische Ziele und wurden forciert.[11] Damit sollte eine Assimilation der jüdischen Bevölkerung herbeigeführt werden.

 

Das Kochbuch von 1815 ordnete sich in diese Entwicklung ein. Stolz setzte sich explizit zum Ziel, „[m]anches in der Kocherei der Israeliten zu verbessern.“[12] Wie andere Publikationen dieser Gattung kann sein Kochbuch also einerseits als normative Quelle gelten und spiegelt damit nicht automatisch die Ernährungsgewohnheiten einer bestimmten Gruppe wider.[13] Andererseits mutet dieser Anspruch paternalistisch an und folgt damit dem allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Trend: der Annahme, Jüdinnen und Juden müssten sich „politisch und sittlich“ auf die Ebene der Christ*innen verbessern.

 

Nach Angabe des Verfassers eignete sich das Kochbuch zudem auch für Christ*innen.[14] Allerdings wird die Zielgruppe römisch-katholischer Christ*innen – auch durch spezielle Fastengerichte – gesondert in einem weiteren Kochbuch Stolz‘ angesprochen. Der höfische Mundkoch ließ nur ein Jahr später ein „Rheinisches Kochbuch“ drucken, das vergleichend herangezogen werden kann und wichtige Zusatzinformationen liefert. Die Rezepte dort sind nämlich sehr ähnlich. Deshalb liegt der Verdacht nahe, dass die postulierte Eignung für christliche Haushalte im „Kochbuch für Israeliten“ weniger eine Aussage über die intendierte Zielgruppe trifft, sondern als bewusstes rhetorisches Mittel eingesetzt wurde, um die Assimilationsbereitschaft bei Jüdinnen und Juden zu fördern.

Dabei kann noch weiter gegangen werden. Die Zubereitungsvorschläge weisen, wie schon festgestellt, große Ähnlichkeiten mit den regionaltypischen Rezepten im „Rheinischen Kochbuch“ auf. Worin lag also der Zweck einer eigenen Publikation für die jüdische Bevölkerung? Stolz verfasste das Kochbuch speziell für Jüdinnen und Juden und ging auf deren religiöse Vorschriften ein. Durch die Publikation konnte die jüdische Bevölkerung gezielt angesprochen und motiviert werden, sich an die Mehrheitskultur anzupassen.

 

Das Kochbuch ermöglichte durch Strukturierung mittels Überschriften und durch Vorschläge von Ersatzprodukten die Zubereitung regionaler Gerichte gemäß jüdischer Speisevorschriften. Andere Aspekte jüdischen Lebens wie die Sabbatruhe wurden im Kochbuch hingegen nicht berücksichtigt.

 

Implizit thematisierte das „Kochbuch für Israeliten“ außerdem das Thema der kulturellen Anpassung: Stolz wollte mit seinem Vorwort subtil die Motivation der jüdischen Bevölkerung steigern, sich an die Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren. Gleichzeitig zeigt das Vorwort auch einen zeittypischen Paternalismus gegenüber Juden und Jüdinnen. Aufgrund der Ähnlichkeit mit der Anlage des „Rheinischen Kochbuchs“ kann die These aufgestellt werden, dass eine eigens erstellte Publikation für die jüdische Zielgruppe ein bewusstes didaktisches Anliegen verfolgte. Damit definierte das Kochbuch von 1815 die Ernährung als einen Aspekt erwarteter gesellschaftlicher Assimilation an die jüdische Bevölkerung.

 

Ein Beitrag von Mirjam Wien


Quellen und weiterführende Literatur:

Stolz, Josef: Kochbuch für Israeliten: oder praktische Anweisung, wie man nach den jüdischen Religions-Grundsätzen alle Gattungen der feinsten Speisen kauscher bereitet, Karlsruhe 1815, als Digitalisat einsehbar unter http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/stolz1815 .

Stolz, Josef: Rheinisches Kochbuch, Karlsruhe 1816, als Digitalisat einsehbar unter https://digital.blb-karlsruhe.de/id/3122859.

Brenner, Michael: Von den Anfängen jüdischen Lebens in Deutschland bis zur Shoah, 2021, URL: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/juedischesleben/328412/von-den-anfaengen-juedischen-lebens-in-deutschland-bis-zur-shoah, letzter Zugriff am 27.05.2021.

Hiller von Gaertringen, Julia: Die Hofköche der badischen Großherzöge, URL: https://ausstellungen.blb-karlsruhe.de/ausstellung/die-hofkoeche-der-badischen-grossherzoege.html, letzter Zugriff am 30.05.2021.

Grivetti, Louis: Food Prejudices and Taboos, in: Kenneth F. Kiple und Kriemhild Coneè Ornelas (Hg.), Cambridge World History of Food Bd. 2, Cambridge 2000, 1495-1513.

Notaker, Henry: A History of Cookbooks: From Kitchen to Page Over Seven Centuries, Oakland 2017.

Stude, Jürgen: Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, Karlsruhe 1990.

 

Fußnoten:

[1] Louis Grivetti, Food Prejudices and Taboos, in: Kenneth F. Kiple und Kriemhild Coneè Ornelas (Hg.), Cambridge World History of Food, Bd. 2, Cambridge 2000, 1498-1502.

[2] Stolz, Kochbuch, IX-X.

[3] Stolz, Kochbuch für Israeliten, 6; 245.

[4] Henry Notaker, A History of Cookbooks: From Kitchen to Page Over Seven Centuries, Oakland 2017, 235.

[5] Stolz, Kochbuch für Israeliten, 121-122.

[6] Julia Hiller von Gaertringen, Die Hofköche der badischen Großherzöge, URL: https://ausstellungen.blb-karlsruhe.de/ausstellung/die-hofkoeche-der-badischen-grossherzoege.html, letzter Zugriff am 30.05.2021.

[7] Michael Brenner, Von den Anfängen jüdischen Lebens in Deutschland bis zur Shoah, 2021, URL: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/juedischesleben/328412/von-den-anfaengen-juedischen-lebens-in-deutschland-bis-zur-shoah, letzter Zugriff am 27.5.2021.

[8] Hahn, Aufstieg, 203-215.

[9] Stude, Juden, 57-69.

[10] Stude, Juden, 58.

[11] Volkov, Juden, 12.

[12] Stolz, Kochbuch, IV.

[13] Ulrike Thoms, Artikel „Kochbuch“, Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 6, 848.

[14] Stolz, Kochbuch, V.


Infospalte


A project sponsored by:

Ein Projekt gefördert durch:


Follow us on Twitter:  

Folge uns auf Twitter:


Kommentar schreiben

Kommentare: 0

Institut für Geschichtsdidaktik und Public History

Wir bieten Ihnen interessante Informationen und Wissenswertes über Geschichte in unserem Alltag und für die Schule: von Ausstellungsrezensionen über Unterrichtsmaterial bis hin zu Reise- und Fortbildungstipps. Alles was Geschichtsinteressierte begeistert – Klicken Sie sich schlau!