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Ein neuer Platz für Joseph Süß Oppenheimer – ein neuer Platz für alle Stuttgarter*innen?


Der Kupferstich von 1738 wurde nach der Hinrichtung hergestellt, darauf zu lesen ein Schmähgedicht auf Joseph Süß Oppenheimer. Emblematisch ist der Galgen mit dem Käfig abgebildet. Bild: Wikimedia.*
Der Kupferstich von 1738 wurde nach der Hinrichtung hergestellt, darauf zu lesen ein Schmähgedicht auf Joseph Süß Oppenheimer. Emblematisch ist der Galgen mit dem Käfig abgebildet. Bild: Wikimedia.*

Mitten in Stuttgart befindet sich ein „Unort“[1], der eigentlich keiner sein sollte. Im Jahr 1998 wurde ein Platz im Zentrum Stuttgarts feierlich im Beisein des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignaz Bubis, in „Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz“ umbenannt. Joseph Süß Oppenheimer war im 18. Jahrhundert Geheimer Finanzrat am Württembergischen Hof. Bekannt ist er vor allem als Opfer eines antisemitisch motivierten Scheinprozesses, den er nicht überleben sollte. Sein Schicksal im Stadtbild und in der Erinnerung Stuttgarts zu verankern, war das Ziel der Initiator*innen der Platzbenennung, der zivilgesellschaftlichen „Stiftung Geißstraße 7“. Obwohl der zuvor namenlose Platz mit Erhalt des Straßenschildes mit Bedeutung versehen werden sollte, geschah das Gegenteil: Er versank zusehends in der Bedeutungslosigkeit. Heute dient er vor allem als Abstellort für Müll, Anlieferungszone für die umliegenden Läden und Tiefgarageneinfahrt. Einzig ein kleines Café hellt den Platz etwas auf. Seit mittlerweile 24 Jahren setzt sich die Stiftung Geißstraße 7 dafür ein, dass der Platz zu dem wird, was er ursprünglich sein sollte: ein angemessener Gedenkort für Joseph Süß Oppenheimer.

 

Un-Orte, Nicht-Orte und Bedeutungsgeografien

Die Wahl des Begriffs „Unort“ in Politik und Medien ist interessant. Die Intention, den Platz als unschönen Ort zu bezeichnen, kommt eher dem Konzept des „Nicht-Ortes“ des Ethnologen Marc Augé am nächsten, der damit zum Beispiel Flughäfen oder Tankstellen beschreibt. Diese Orte sind hochfrequentiert, haben aber keine Identität und gehen keine Beziehung mit ihrer menschlichen Umwelt ein.[2] Dies trifft in gewisser Hinsicht auch auf den jetzigen Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz zu: Durch seine Lage wird er viel begangen, fungiert aber eher als reiner Transit- und Funktionsort, als Anlieferungszone und Tiefgarageneinfahrt.

 

 Für den Soziologen Michel de Certeau ergibt sich das „Unörtliche“ einer Lokalität daraus, dass ein „Ort“ mit einem Narrativ aufgeladen wird und somit das Physikalische übersteigt.[3] Ein solches Narrativ entstehe im urbanen Kontext durch Straßennamen, die eine von den Orten losgelöste „“Bedeutungs“-Geographie“[4] konstruieren. Nach de Certeau wäre der Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz ein „Unort“, da er aufgrund seines Namens eine Geschichte erzählt. Die diskursive Bezeichnung als „Unort“ enthält also bereits mehrere Deutungsebenen, die auf dem Platz zusammentreffen.

 

Joseph Süß Oppenheimer, „Jud Süß“ – von der historischen Person zur antisemitischen Chiffre

Joseph Ben Issachar Süßkind Oppenheimer wurde 1697/98 in Heidelberg geboren. 1732 machte er Bekanntschaft mit dem späteren württembergischen Herzog Carl Alexander, ab 1736 fungierte er als sein Geheimer Finanzrat. In dieser Funktion sollte er unter anderem die württembergische Staatsverschuldung abbauen, die Hofkasse auffüllen und Finanzreformen einführen. Seine vielfältigen Aufgaben erledigte der Finanzrat mit großem Erfolg:  Für den württembergischen Herzog war Oppenheimer bald unersetzlich geworden.[5]

In der Bevölkerung genoss Oppenheimer jedoch kein vergleichbares Ansehen. Im Gegenteil: Seine hohe Position innerhalb der Finanzpolitik und persönliche Nähe zum Herzog sorgten für Misstrauen. Nicht alle profitierten von der Steuer- und Abgabenpolitik, die der Finanzrat im Auftrag des Herzogs ausführte. Es „kursierten anonyme Spott- und Schmähgedichte, [die] zeigen, wie [Oppenheimer] als Reizfigur gesehen wurde, die allen Hass allein auf sich zog, weg vom Herzog und anderen Verantwortlichen“.[6] 1737 starb Herzog Carl Alexander nur vier Jahre nach Amtsantritt an einem Schlaganfall. Noch in derselben Nacht wurde Joseph Süß Oppenheimer verhaftet. Eine lange Liste an Vorwürfen wurde konstruiert, die teilweise nichts mit seiner Tätigkeit als Finanzrat zu tun hatten und dazu dienten, seine Person zu diffamieren. Doch das Urteil stand bereits vor dem Prozess – Todesstrafe. Nach Gefängnisaufenthalten in Hohenneuffen und Hohenasperg, wurde Joseph Süß Oppenheimer am 4. Februar 1738 auf dem Galgenberg im Stuttgarter Norden (heutige Wolframshalde) erdrosselt. Über 10 000 Menschen sahen dabei zu. „Zur Einschüchterung für und Warnung an alle Juden“[7] stellte man seinen Leichnam mehrere Jahre in einem Käfig aus.

 

Doch dies war nicht das Ende der Geschichte Oppenheimers. Unmittelbar vor und nach seiner Hinrichtung wurde das sein Schicksal in Form von Flugblättern und Schmähgedichten medial ausgeschlachtet. Sein Leben und Sterben war Stoff für literarische Erzählungen und antisemitische Propaganda. Im 19. Jahrhundert entstand Wilhelm Hauffs Erzählung „Jud Süß“ (1827), die die Geschichte Joseph Süß Oppenheimers fiktionalisierte und mit antisemitischen Stereotypen des 19. Jahrhunderts einfärbte. Höhepunkt der Verzerrung der historischen Person Oppenheimers war der Film „Jud Süß“ (1940) von Veit Harlan, der wohl bekannteste NS-Propagandafilm.[8] Auch die historische Forschung beschäftigt sich immer wieder mit Joseph Süß Oppenheimer. Die erste Arbeit legte Selma Stern im Jahr 1929 vor.[9]

 

Die antisemitische Chiffre des „Jud Süß“ hielt sich über Jahrhunderte durch ihre medialen Verformungen in den Köpfen der Menschen. Der Historiker Yair Mintzker bezeichnet Joseph Süß Oppenheimer in seinem aktuellen Buch als die ikonischste Figur in der Geschichte des Antisemitismus.[10] Sein Schicksal stehe allegorisch für die ambivalente Geschichte der Jüdinnen und Juden in Deutschland.[11]

 

Aus der (Rezeptions-)Geschichte lässt sich schließen: Bei Joseph Süß Oppenheimer handelt es sich um einen Mythos. Die historische Person lässt sich kaum rekonstruieren, denn selbst die Flut an archivalischen Dokumenten kann kein ‚echtes‘ Bild zeichnen, noch weniger die fiktionalen bzw. propagandistischen Bearbeitungen seiner Geschichte. Die aktuelle erinnerungskulturelle Debatte um den nach ihm benannten Platz ist auch Teil dieser Mythenkonstruktion und -fortschreibung. Sie trägt aber auch dazu bei, Kontinuitätslinien in der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland zu ziehen. Diese hat nicht erst 1933 begonnen – doch auch für diese Zeit gilt es, historische Verantwortung zu übernehmen.

 

Fragen an Zukunft und Vergangenheit: Die Debatte um den neuen Platz

Der Platz, der heute Oppenheimers Namen trägt, entstand erst durch die (Wieder-)Bebauung der Stuttgarter Innenstadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Er ist kein authentischer Schauplatz der Geschichte Oppenheimers. Der Platz wurde aufgrund seiner Nähe zur Turmstraße ausgewählt, in der sich während Oppenheimers Amtszeit die staatliche Münze Württemberg befand. Heute liegt der Platz parallel zur zentralen Einkaufsmeile in Stuttgart. Er wird von Lieferwagen befahren, zudem befindet sich direkt unter ihm eine Tiefgarage. In einem Artikel von 2015 in der Stuttgarter Zeitung prognostizierten die Autoren ein Ende des Joseph-Süß-Oppenheimer-Platzes „als Oase der Ruhe mitten in der Innenstadt“[12], sollte der Billigmodenhersteller Primark die Flächen anmieten. Die Masse an Artikeln, die angeliefert werden müssten, würden den Platz in eine reine Anlieferungszone verwandeln und jeglichen Aufenthaltscharakter zerstören. Der Artikel befasste sich jedoch nicht so sehr mit der erinnerungskulturellen Bedeutung des Platzes, sondern bezeichnet ihn als „zentrale […] Oase für individuellen Einzelhandel“[13].

 

Zwei Jahre später zog Primark dennoch ein und bescherte der Stadt Stuttgart zahlreiche kauffreudige Besucher*innen. Der Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz allerdings wurde mehr und mehr zur Anlieferungszone für billige T-Shirts und Jeans. Im Jahr 2018, 20 Jahre nach der Benennung, veranstaltete die Stiftung mit dem anliegenden Café Consafos das „Festival of Tolerance“ auf dem Platz, „um an das Schicksal J. S. Oppenheimers zu erinnern und gleichzeitig ein Zeichen gegen Intoleranz und Vorurteile zu setzen, was in unserer heutigen Zeit wichtiger denn je erscheint.“[14] Auch heute steht im Fokus der Gedenkortkonzeption die Verknüpfung von historischer Verantwortung und aktivem Erinnern. Der Raum soll nicht unantastbar sein, sondern belebt werden.

 

Dank der Stiftung Geißstraße 7 sowie engagierter Lokaljournalist*innen geriet der Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz nie ganz aus dem Blick der Öffentlichkeit. Vor allem zivilgesellschaftliche Akteur*innen kümmerten sich dezentral um das Wachhalten der Erinnerung, beispielsweise in Form von Stadtspaziergängen zu Oppenheimers Wirken in Stuttgart. Seit 2021 steht der Platz allerdings erneut im Fokus der lokalen Aufmerksamkeit. In einem Brief an den Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper forderte Landtagspräsidentin Muhterem Aras eine Umgestaltung des Platzes. Im März 2022 legte das Stadtplanungsamt ein erstes Konzept vor. Viele städtebauliche Aspekte erschweren jedoch die Planung einer angemessenen Gedenkortkonzeption: der Verkehr, die Tiefgarage unter dem Platz, ein Bordelleingang direkt am Platz gelegen.

 

(Scheinbare) Konflikte ergeben sich also sowohl aus erinnerungskultureller wie aus stadtplanerischer Sicht: Ist der Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz ein Erinnerungsort für ein nicht rehabilitiertes, jüdisches Justizopfer oder ist er ein Erholungsangebot für müde Passant*innen während ihres Einkaufsbummels? Schließen sich diese beiden Funktionen kategorisch aus? Wer ist Erinnerungsträger – die Stadt oder ihre Bürger*innen? Und wird das Gedenken zentralisiert, wenn die Stadt für den Platz Verantwortung übernimmt? Dabei muss auch beachtet werden, dass ohne geeignete finanzielle Unterstützung und Platzbedingungen dezentrales Gedenken nicht funktionieren kann.

 

Vielleicht kann der Platz beides sein – ein Gedenkort, der seinem Namensträger gerecht wird und ein Aufenthaltsort, der für alle Stuttgarter*innen da ist. Schließlich war auch Joseph Süß Oppenheimer ein Stuttgarter Bürger. Die Frage ist, wie die Stadt ihre historische „“Bedeutungs“-Geographie“ gestaltet und den Joseph Süß-Oppenheimer-Platz darin einbettet. Wie auch immer der neue Platz aussehen wird – in der Debatte geht es um zentrale Fragen der Stadtentwicklung, in denen Vergangenheit und Zukunft eng miteinander verwoben sind.

 

 Ein Beitrag von Mia Paulus


Literatur:

Emberger, Gudrun (Hg.): Die Quellen sprechen lassen. Der Kriminalprozess gegen Joseph Süß Oppenheimer 1737/38. Stuttgart 2009.

Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): „Jud Süß“. Propagandafilm im NS-Staat. Katalog zur Ausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart, vom 14. Dezember 2007 bis 3. August 2008. Red.: Ernst Seidl. Stuttgart 2007.

Gerber, Barbara: Jud Süß. Aufstieg und Fall im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zu historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung. Hamburg 1990.

Mintzker, Yair: The Many Deaths of Jew Süss. The Notorious Trial and Execution of an Eighteenth-Century Court Jew. Princeton 2017.

Przyrembel, Alexandra/Schönert, Jörg: „Jud Süß“. Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild. Frankfurt [u.a.] 2006.

Tegel, Susan: Nazis and the Cinema. London [u.a.] 2008.

 

Fußnoten:

[1] Vgl. https://diefraktion-stuttgart.de/2021/12/02/warum-geht-nichts-voran-am-unort-joseph-suess-oppenheimer-platz/ [zuletzt aufgerufen am 05.05.2022]; https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-mitte-das-ende-eines-unortes-nimmt-gestalt-an.be5fd38e-ed89-4f5d-8f80-f42a8ab5cddf.html [zuletzt aufgerufen am 05.05.2022]

[2] Vgl. Matthias Däumer/Annette Gerok-Reiter/Friedemann Kreuder (Hgg.): Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2010, S. 16-18.

[3] Vgl. ebd., S. 11-13.

[4] Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 200.

[5] Vgl. hier und im Folgenden: Stiftung Geißstraße 7: Denkblatt Joseph Süß Oppenheimer, Red.: Dirk Mende, 2. Aufl., Stuttgart 2013. https://www.geissstrasse.de/media/denkblatt_oppenheimer_2.aufl.pdf [zuletzt aufgerufen am 05.05.2022].

[6] Ebd., S. 1.

[7] Ebd. S. 2.

[8] Vgl. Yair Mintzker: The Many Deaths of Jew Süss. The Notorious Trial and Execution of an Eighteenth-Century Court Jew. Princeton 2017, S. 16f.

[9] Selma Stern: Jud Süss. Ein Beitrag zur deutschen und zur jüdischen Geschichte. Unveränd. Neuausg. München 1973.

[10] Vgl. ebd., S. 1.

[11] Vgl. ebd. S. 2.

[12] Sven Hahn/Ingmar Volkmann: Der Hinterhof der Königstraße, Stuttgarter Zeitung, 31.03.2015. https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.joseph-suess-oppenheimer-platz-der-hinterhof-der-koenigstrasse.766c7309-ef0e-4cf8-89a6-fa2c8cbf2cb2.html [zuletzt aufgerufen am 05.05.2022].

[13] Ebd.

[14] https://www.geissstrasse.de/veranstaltungen/20-jahre-joseph-suess-oppenheimer-platz/ [zuletzt aufgerufen am 10.05.2022]

 

Bild:

*Unidentified engraver, Public domain, via Wikimedia Commons

Page-URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Flugblatt3_Joseph_S%C3%BC%C3%9F_Oppenheimer_copy.jpg
File-URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/51/Flugblatt3_Joseph_S%C3%BC%C3%9F_Oppenheimer_copy.jpg


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