· 

Reihe: Queere Erinnerungskultur in Stuttgart und Umgebung 2/4 - Proteste von "Stonewall" bis Stuttgart


Das Stonewall Inn in der Christopher Street, New York im Jahr 2019. (© Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)*
Das Stonewall Inn in der Christopher Street, New York im Jahr 2019. (© Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)*

Wenn queere Geschichte erzählt wird, dann ist damit zumeist die jüngere Protestgeschichte der LSBTTIQ-Bewegung gemeint. Sie betrachtet vor allem die Phase des Kampfes um Gleichberechtigung von queeren Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber queere Geschichte hat damit keinesfalls begonnen. In Baden-Württemberg beginnt die LSBTTIQ-Vergangenheit spätestens mit dem homosexuellen König Karl von Württemberg (1823–1891). Dennoch prägte den offenen Aktivismus auch hierzulande vor allem das Leitnarrativ der Proteste um das New Yorker Stonewall Inn im Jahre 1969. In der Bar wehrten sich in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni und in den Folgenächten queere Personen gegen eine von der Polizei durchgeführte Razzia. Bei solchen Razzien war es üblich, die Identität der Teilnehmenden offenzulegen und dadurch diese Menschen zu gefährden. Es drohte der Verlust von Status, Arbeitsplatz oder sogar die juristische Verfolgung.

 

In der Christopher Street führte die Gegenwehr der Bargäste und ihrer Unterstützergruppen zu mehrtägigen Straßenschlachten mit der Polizei, die auch international Aufmerksamkeit erregten. Die Berichterstattung war dabei fast ausschließlich gegen die Demonstrierenden gerichtet. Dadurch und durch die immer repressiveren Maßnahmen der Polizei wurde das Stonewall Inn zu einem Sammelpunkt der aktivistischen Szene. Die Gründung der nationalen Gay Liberation Front (GLF) und der Gay Activists Alliance (GAA) waren direkte Folgen der Wut über die staatlichen Repressalien. Dass das Stonewall Inn so zu einem lokalen wie nationalen Erinnerungsort für die Szene wurde, ist weitestgehend bekannt. Die Berichterstattung über die Ausschreitungen bewirkte aber noch etwas anderes: Außerhalb der New Yorker Subkultur und auch im Ausland erhielt das Thema öffentliche Aufmerksamkeit. „Stonewall“ kann deshalb als der erste internationale queere Erinnerungsort verstanden werden.

 

Vom Erinnerungsort zum Erinnerungsevent

Eine direkte Folge der Vorkommnisse um das Stonewall Inn waren die ersten Christopher-Street-Day-Paraden („CSD-Paraden“) als Demonstrations- und Erinnerungsevents sexueller Vielfalt innerhalb der Szene. Längst wird dabei nicht mehr nur innerhalb der Community an die Proteste in der Christopher Street erinnert, sondern in einer breiten Öffentlichkeit. Dass dieses Muster funktioniert, beweisen die vielen CSD-Paraden überall auf der Welt. Hier treffen community-interne und breite öffentliche Erinnerung in der Gesamtgesellschaft zusammen. Dabei ist es egal, ob in New York oder Stuttgart demonstriert wird, denn die Ausschreitungen von New York waren und sind auf die Ziele der Gleichberechtigung aller Homosexuellen (und inzwischen aller queeren Menschen) weltweit übertragbar. Jede Demonstration wird dadurch zu einem lebendigen Erinnerungsort. Durch die Verbindung mit „Stonewall“ war und ist immer klar, wofür man sich versammelt.

„Stonewall“ als internationaler Erinnerungsort funktioniert auch in Baden-Württemberg. In Stuttgart wurden bis 2020 noch jährlich CSD-Paraden abgehalten. Seit 2021 wird der neuere Begriff „Pride-Parade“ benutzt. Die Paraden für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sind heute international wie auch in Baden-Württemberg das größte Erinnerungsereignis der queeren Community.

 

Protest in Stuttgart

Die Stuttgart Pride (externer Link) ist dabei ein wichtiges Zentrum der süddeutschen Bewegung, denn sie gehört zusammen mit denen in Berlin und Köln zu den größten in Deutschland. Ihre Größe und die Reichweite ihrer Wahrnehmung zeigen, wie gut sich die von „Stonewall“ inspirierte lebendige Erinnerungskultur im Südwesten etablieren konnte. Die lokale Protestgeschichte begann in Baden-Württemberg allerdings erst zehn Jahre nach „Stonewall“.

Zum zehnjährigen Jubiläum der Ausschreitungen in New York fand 1979 die erste Demonstration für „Homobefreiung“ (externer Link)  in Stuttgart statt. Auf dem Schlossplatz, genau vor dem Königsbau, versammelten sich am 30. Juni 1979 rund 400 Teilnehmende. Die Demonstration war bei der Stuttgarter Stadtverwaltung offiziell als „Straßentheater“ angemeldet worden, um öffentliches Aufsehen und ein Verbot der Versammlung zu vermeiden. Mit markigen Parolen wurde erstmals in der Landeshauptstadt für die Anerkennung von Homosexuellen demonstriert. Im Fokus der Proteste stand neben der schon bei „Stonewall“ eingeforderten Toleranz vor allem die Änderung der bundesdeutschen Gesetzgebung.

Bei der Demo für „Homobefreiung“ im Jahr 1979 versammeln sich queere Menschen vor dem Königsbau in Stuttgart. (© Stadtarchiv Stuttgart 1069 Pressefoto Kraufmann 23713/21 | Foto: Uli Kraufmann)**
Bei der Demo für „Homobefreiung“ im Jahr 1979 versammeln sich queere Menschen vor dem Königsbau in Stuttgart. (© Stadtarchiv Stuttgart 1069 Pressefoto Kraufmann 23713/21 | Foto: Uli Kraufmann)**

 

Strafrechtsparagraf gegen Liebe

Neben „Stonewall“ und der dadurch entstandenen internationalen Erinnerungskultur für LSBTTIQ-Themen ist für Süddeutschland noch ein weiterer historischer Aspekt zentral: die Änderung des Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch (StGB). Dieser Paragraf und der Kampf gegen ihn ist zentral für die queere Erinnerungskultur. Diese Erinnerungsgeschichte beginnt dabei bereits im Deutschen Kaiserreich.

 

Seit 1872 wurden im neu gegründeten Deutschen Reich homosexuelle Handlungen zwischen Männern pauschal unter Strafe gestellt. Es drohten Gefängnisstrafen und die Aberkennung bürgerlicher Rechte. Weibliche Homosexualität wurde hingegen nicht bestraft. Dies erklärt, warum hauptsächlich Männer in der Folgezeit gegen diese Gesetzgebung vorgingen. Im Mai 1897 gründete der Arzt Magnus Hirschfeld (1868–1935) zusammen mit Freunden und Unterstützern das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) in Berlin. Damit sollten wissenschaftliche Forschung und öffentliche Aufklärung zu einer Neubewertung von Homosexualität kommen. Mithilfe von medienwirksamen Aktionen wollte man sich Gehör verschaffen. Durch die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik entstand die weltweit erste bekannte Bewegung für die Rechte von Homosexuellen. In der Weimarer Republik schaffte es Magnus Hirschfeld schließlich, über den Paragrafen im Parlament abstimmen zu lassen. Das Anliegen zur Abschaffung scheiterte nur knapp.

 

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zerschlugen sich alle Bemühungen der ersten Homosexuellenbewegung schlagartig. Der sogenannte „Unzucht-Paragraf“ wurde verschärft und von den neuen Machthabern gnadenlos umgesetzt. Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ und der Gründung der Bundesrepublik änderte sich daran nichts. Die NS-Gesetzgebung galt in Bezug auf den Strafrechtsparagrafen 175 im Wortlaut weiter. Der von den Nationalsozialisten verschärfte Paragraf fand trotz der neuen Grundrechte auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Art. 2 GG) und der „Gleichberechtigung der Geschlechter“ (Art. 3 GG) weiter Anwendung.

 

Dieses Bild einer am 30. Juni 1979 in Stuttgart demonstrierenden Mutter ging durch die Presse. (© Stadtarchiv Stuttgart 1069 Pressefoto Kraufmann 23713/17 | Foto: Uli Kraufmann)***
Dieses Bild einer am 30. Juni 1979 in Stuttgart demonstrierenden Mutter ging durch die Presse. (© Stadtarchiv Stuttgart 1069 Pressefoto Kraufmann 23713/17 | Foto: Uli Kraufmann)***

Erst im September 1969 – im Jahr der „Stonewall“-Ausschreitungen – wurde das Strafgesetzbuch geändert. Homosexuelle Handlungen von Männern über 21 Jahren untereinander wurden nun von der Strafverfolgung ausgenommen. Dadurch waren faktisch nur noch homosexuelle Handlungen von jungen Männern strafbar. Dass die Gesetzesänderung ausgerechnet im gleichen Jahr wie „Stonewall“ stattfand, war sicher auch einer zunehmenden gesellschaftlichen Debatte zur sexuellen und geschlechtlichen Selbstbestimmung zu verdanken.

 

Als 1979 in Stuttgart zum ersten Mal Menschen für ihre Gleichberechtigung auf die Straße gingen, trafen sowohl die Erinnerung an „Stonewall“ als auch die Erinnerung und der weitere Kampf zur endgültigen Abschaffung des nun abgeschwächt immer noch existierenden § 175 aufeinander. Die Wechselwirkung beider Ereignisse zur gleichen Zeit machte ihr zehnjähriges Jubiläum 1979 zu einem Erinnerungsevent im Zeichen des doppelten Protests. Vor allem ein Bild ging zu diesem Anlass später durch die Presse. Es zeigte eine Mutter, die ein Plakat trug: „Mein Sohn ist schwul! Na und!“ (externer Link) war darauf zu lesen.

 
Zu einer völligen Abschaffung des § 175 kam es erst 1994. Die entsprechend der Rechtsgrundlage bis dato verurteilten queeren Personen wurden erst 2017 rehabilitiert und entschädigt.

 

 

 

 

 

 

 

Ein Beitrag von Timo Mäule

 

Lesen Sie hier  den Rahmentext der Blogreihe sowie den nächsten Teil dieses Beitrags: Gegen das Vergessen: AIDS in Baden-Württemberg.

 

Hier geht es zum Rahmentext, zu Teil 3 und Teil 4 der Blogreihe!

 

Dieser Text entstand im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Seminar für Zeitgeschichte und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, in der sich Studierende im Sommersemester 2022 mit weiteren Erinnerungsorten in Baden-Württemberg beschäftigt haben. Er wurde für die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg unter https://www.landeskunde-baden-wuerttemberg.de/queere-erinnerungskultur-in-stuttgart#c99636 (externer Link) publiziert.

 

Bilder:

*Das Stonewall Inn in der Christopher Street, New York im Jahr 2019. (© Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0), URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stonewall_Inn,_April_2019.jpg

**Bei der Demo für „Homobefreiung“ im Jahr 1979 versammeln sich queere Menschen vor dem Königsbau in Stuttgart. (© Stadtarchiv Stuttgart 1069 Pressefoto Kraufmann 23713/21 | Foto: Uli Kraufmann).

 

***Dieses Bild einer am 30. Juni 1979 in Stuttgart demonstrierenden Mutter ging durch die Presse. (© Stadtarchiv Stuttgart 1069 Pressefoto Kraufmann 23713/17 | Foto: Uli Kraufmann).

 

 

 

(Weiterführende) Literatur:

Beck, David: HIV und Aids – Geschichte einer Pandemie (externer Link) (= SWR2 Wissen, 01.12.2020).
Bruns, Manfred: 
Die Schwulenbewegung in Deutschland. Von § 175 über die neuen Schwulengruppen zur Bürgerrechtsbewegung (=LSVD.de).
Cüppers, Martin/ Domeier, Norman (Hrsg.): Späte Aufarbeitung. LSBTTIQ-Lebenswelten im Südwesten. Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs Bd. 50, Stuttgart 2018. (
Link zum Shop , externer Link)

Reusch, Nina: Geschichte werden, Geschichte machen. In: Martin Cüppers/Norman Domeier (Hrsg.): LSBTTIQ-Lebenswelten im deutschen Südwesten, Stuttgart 2018, S. 205.


Infospalte


Bild: Timo Mäule.
Bild: Timo Mäule.
Bild: Der Kuckuck, 12.01.1930.
Bild: Der Kuckuck, 12.01.1930.

 

Verwandte Themen:

Lokal hingeschaut

 

 

Folge uns auf  Twitter:



Kommentar schreiben

Kommentare: 0

Institut für Geschichtsdidaktik und Public History

Wir bieten Ihnen interessante Informationen und Wissenswertes über Geschichte in unserem Alltag und für die Schule: von Ausstellungsrezensionen über Unterrichtsmaterial bis hin zu Reise- und Fortbildungstipps. Alles was Geschichtsinteressierte begeistert – Klicken Sie sich schlau!