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„Offene Geschichte“: Die digitale Plattform des SFBs „Bedrohte Ordnungen“


Bild: Universität Tübingen; SFB 923; DFG.
Bild: Universität Tübingen; SFB 923; DFG.

 

 

Das Institut für Geschichtsdidaktik und Public History arbeitet derzeit an einer digitalen Plattform. Rainer Lupschina, Mitarbeiter im Projekt, Oberstudienrat und Fortbildender im Bereich digitale Medien des Kultusministeriums Baden-Württemberg stellt die „Offene Geschichte“ des  Sonderforschungsbereichs (SFB) 923 Bedrohte Ordnungen  der Universität Tübingen vor. 

 

 


- Selbst Geschichte zu erzählen bedarf einer gewissen Offenheit - 

Unsere digitale Plattform „Offene Geschichte“ bietet das. Sie setzt auf offene historische Situationen, offenes historisches Lernen und offene Geschichtserzählungen. Unter Pandemiebedingungen und dem (zeitweiligen) Verlust des Präsenzunterrichts seit dem Frühjahr 2020 waren herkömmliche Unterrichtsformate von heute auf morgen beinahe obsolet. Analoge Formen verpufften, sobald sie auf digitalisierte Bedingungen stießen. Lernende sind nicht gewohnt autonom zu arbeiten, können es aber, wenn man es ihnen zumutet und zutraut, in ganz unterschiedlichen Settings.

 

Die Fakultät für Geschichtsdidaktik und Public History* arbeitet seit Ende 2019 zusammen mit dem SFB 923 Bedrohte Ordnungen* an der Geschichtsplattform, die über die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)* finanziert wird. Der SFB entwickelt bereits seit knapp 10 Jahren ein Erkenntnismodell, das es herauszufinden erlaubt, wie Menschen mit Bedrohungen umgehen. 

 

Das Modell der Bedrohten Ordnungen nimmt Extremsituationen der Vergangenheit in den Blick, in der Menschen sich gezwungen fühlten, zu handeln. Für die schulischen Umsetzungen werden auf der neuen Plattform entsprechende Themen der Bildungspläne ausgewählt. Wie eine Bedrohung konkret festgestellt wurde und wie man sich über Maßnahmen der Abwehr verständigte, ist der Auftakt zu einer Analyse. Ohne eine dabei auftretende „Selbstalarmierung“ gibt es keine Bedrohung. Der Diagnose folgt die Praxis, es wird gehandelt. In Abhängigkeit der verfügbaren Ressourcen und in Abhängigkeit davon, wen man zu seiner Gruppe zählt, und wen nicht, werden neue Anstrengungen unternommen, der Gefahr zu begegnen.

 

Was sich dabei anhört wie eine spannende Geschichte, ist auch tatsächlich eine. Die Dramaturgie des Modells ermöglicht eine didaktische Dramaturgie für selbständiges historisches Lernen. Die vier Fragen aus dem Modell: Was bedroht uns? Was tun wir? Was brauchen wir? Und: Wer sind wir? führen durch die „Geschichte“.

 

Im Angesicht einer existenziellen Gefahr treffen Menschen schwerwiegende Entscheidungen. Sie wägen Alternativen ab und sind sich dabei keineswegs sicher, ob ihre Entscheidung Erfolg bringt. Die damalige Zukunft ist offen, Geschichte ist nicht zwangsläufig. Das ist Lernenden nicht so ohne Weiteres klar. In Geschichtsstunden wird meist „ergebnisorientiert“ gearbeitet. Es sieht mitunter so aus, als ob man herausfinden müsste, was geschah, obwohl dies nicht intendiert ist. Was eigentlich didaktisch plausibel ist, führt dennoch zu der Annahme: Es gibt nur diese eine Geschichte.

 

 

Historische Situationen lassen sich durch das Modell der Bedrohten Ordnungen didaktisch so aufbereiten, dass Lernende die unsichere Perspektive der Handelnden wahrnehmen. Akteure hätten sich auch anders entscheiden können. Hätte sich das Kabinett in der berüchtigten Sitzung im März 1920 für General Reinhardts Gegenschlag entschieden und nicht für General Seeckts Rückzug der Reichswehr in die Kasernen, dann hätte es auch ganz anders kommen können - für die Weimarer Republik. Schüler beginnen, in Alternativen zu denken, um Handlungsspielräume auszumachen, womit der Deutungshorizont überhaupt erst ersichtlich wird. Alexander Demandts Anregung: „Überlegungen zu vergangenen Eventualitäten sind nicht nur erforderlich, um die Bedeutung von wirklichen Ereignissen zu ermitteln, sondern auch geeignet, die angenommene Bedeutung von wirklichen Misserfolgen, Fehlentscheidungen und Versäumnissen ideologiekritisch zu hinterfragen“, nehmen wir auf. Zusammen mit der ähnlich gearteten Hypothesenbildung (zur Vergegenwärtigung von Schülerkonzepten) wird eine „methodische Phantasie“ erlaubt, die Alterität fördert und eine Imagination ausbildet, die jeder Historiker benötigt, um aus den „erhaltenen Bruchstücken der Überlieferung wirkliche Ereigniszusammenhänge zu erkennen“. (Demandt)

 

Das Modell der Bedrohten Ordnungen bietet eine Art Basiskonzept, um sozialen Wandel zu erfassen: Es erlaubt, Bedrohungen in der Vergangenheit didaktisch zu konkretisieren, und es erlaubt Lernenden selbst Geschichte spannend zu erzählen. Denn das ist ein weiterer Ansatz der Plattform: Erzählen ermöglichen. Die leitenden vier Modellfragen sind als Bausteine konzipiert, mit deren Hilfe Lernende eine eigensinnige Geschichte entwickeln. Sie rahmen die historische Situation, nicht deren Ergebnisse. Unsere Aufgabenformate für die Analysen erlauben selbständiges Arbeiten der Lernenden, auch mit Texten, die im Unterricht oft nur mit Hilfe der Lehrkraft zu verstehen sind. An den neuralgischen Punkten des Übergangs von der Analyse zum Urteil werden Aufgaben angeboten, die eine ausformulierte Deutung verlangen. Lernende kommen bei diesem Konzept nicht nur am Ende einer Stunde zu einem Urteil, sondern fällen pro Baustein mehrere eigene Urteile. So entstehen eigensinnige, ganz unterschiedliche Erzählungen der Lernenden. An ihnen wiederum kann die Lehrkraft Denkmuster der Lernenden zu historischen Gegenständen ausmachen, die ohne Erzählung kaum zu erkennen wären. Geplante Erweiterungen der Plattform werden Schülerinnen und Schülern erlauben, ihre Erzählungen zu vergleichen, zu überarbeiten (individuell und kooperativ), um Schreibroutinen aufzubauen.

 

Die ersten Module stehen nach der Freischaltung im Spätherbst als OER (Open Educational Ressource) zur Verfügung und können somit frei für alle Schulen verwendet werden. Dies wird eigens angekündigt. Die Lernplattform für Geschichte steht an ihrem Anfang. Die gegenwärtige pandemische Bedrohung legte einen raschen Start nahe. Es folgen in den kommenden drei Jahren weitere Module. Geplante technische Erweiterungen und weitere didaktische Entwicklungen werden laufend integriert.

 

Ein Beitrag von Rainer Lupschina


 Literatur:

-     Demandt, Alexander: Es hätte auch anders kommen können. Berlin 2015.

-   Günther-Arndt, Hilke: „Also irgendetwas muss schief laufen für eine Veränderung.“ Schülervorstellungen zur Geschichte und zu Kompetenz des historischen Denkens, in: Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte. Hrsg. v. Saskia Handro, Bernd Schönemann. Berlin 2016. S. 93-110.

-     Schmale, Wolfgang: Digitale Geschichtswissenschaft. Wien 2010.

 

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