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Von Urkunden, Büchern und Karten – Werner Markert und das „Tübinger Erbe“ der Ostforschung


Die Zarenurkunde Peters des Großen von 1708 nach der Untersuchung durch Mitarbeiter:innen des Universitätsarchivs Tübingen, 2016 (Copyright: Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde).
Die Zarenurkunde Peters des Großen von 1708 nach der Untersuchung durch Mitarbeiter:innen des Universitätsarchivs Tübingen, 2016 (Copyright: Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde).

In der Bibliothek des Tübinger Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde konnte man bis 2016 eine prächtig illuminierte und handschriftlich verfasste russische Originalurkunde Peters des Großen aus dem Jahr 1708 bewundern. Die Urkunde wurde Ende der 1950er-Jahre vom Gründungsdirektor des Instituts, Werner Markert (1905–1965), gekauft. Nachdem sich die Fragen um ihre Herkunft gehäuft hatten, machte sich ein deutsch-ukrainisches Forscher*innenteam daran, die Provenienz des Objekts zu klären. Sie konnten zeigen, dass die Urkunde wohl während des Zweiten Weltkrieges durch das SS-Sonderkommando Künsberg aus der Handschriftenabteilung der Vernads'kyj-Nationalbibliothek entwendet wurde, bevor das Raubstück dann über Kontakte Markerts seinen Weg in das Tübinger Institut fand.[1] Die Empfehlung der Forscher*innen mit Blick auf den Verbleib der Urkunde war eindeutig. Dennoch dauerte es knapp drei Jahre, bis sie 2019 durch das Auswärtige Amt an die ukrainische Nationalbibliothek zurückgegeben wurde.[2]

 

Der „Tübinger Fall“ macht eines deutlich: Die Provenienz der Inventarbestände von Forschungseinrichtungen sollte auch dann geprüft werden, wenn sie nicht zwischen 1933 und 1945 erworben oder aber die Einrichtungen selbst erst Jahre nach dem Kriegsende gegründet wurden. Denn der Blick in die Kellerräume und Inventarbücher des Tübinger Instituts im Zuge der Nachforschungen offenbarte, dass neben der Urkunde weit über zehntausend Karten, umfangreiches Buchmaterial und sogar Teile eines Presseausschnittsarchivs des Auswärtigen Amtes aus zweifelhaften Bezugskanälen stammen mussten. Viele dieser russischen, polnischen, aber auch griechischen Originalkarten tragen die Stempel deutscher Besatzungsorgane. Ein Blick in die Inventarbücher des Instituts zeigt, dass sie in Teilen nachweislich von Personen an das Institut verkauft wurden, die während des „Dritten Reiches“ im Rahmen ihrer Dienstposten Zugriff auf das Material hatten. Darunter waren etwa Jürgen von Hehn (1912–1983) und Wilfried Krallert (1912–1969), die als ehemalige Mitglieder des SS-Sonderkommandos Künsberg[3] und Gruppenleiter im Reichssicherheitshauptamt am systematischen Kulturgutraub in Osteuropa beteiligt gewesen waren. Aber auch der ehemalige Leiter der Publikationsstelle Berlin-Dahlem[4] Johannes Papritz (1898–1992) findet sich im Inventarbuch, wie auch Karl Stumpp (1896–1982), der als Mitglied des Sonderkommandos „Sippenkunde und Volksbiologie“ unmittelbar am massenhaften Archivraub in der Ukraine beteiligt gewesen war.[5]

 

Krallert und von Hehn   lieferten die Volkstumskarten. Erste Seite des Karteninventarbuchs des   Tübinger Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde   (Copyright: Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde).
Krallert und von Hehn lieferten die Volkstumskarten. Erste Seite des Karteninventarbuchs des Tübinger Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde (Copyright: Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde).

Markert war direkt in die Ankäufe des offensichtlich zweifelhaften Materials involviert. Für die Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung (AfO), die er seit 1951 leitete, kaufte er zahlreiches Material an. Für die vom Bundesinnenministerium finanzierte AfO und das damit verbundene – auf mehr als zehn Jahre angelegte – Mammutprojekt eines „Osteuropa-Handbuchs“ mit Standardwerkcharakter waren umfassende Bücher- und Kartenbestände eine schwer umkämpfte Ressource. Markert schlug also zu, wann immer sich die Gelegenheit zum Kauf bot. Es waren diese Bestände, die die wissenschaftliche Arbeit der AfO, die nach Markerts Berufung an die Universität Tübingen 1953 in die schwäbische Kleinstadt übersiedelte, überhaupt erst möglich gemacht hatten. Die Bedeutung solcher Originalkarten sollte für die entstehende Osteuropaforschung nicht unterschätzt werden. Sie war wie die Ostforschung im „Dritten Reich“ auch nach 1945 noch stark von den kartenzentrierten Ansätzen und Methoden der Volkstumsforschung geprägt. Es wundert daher in der Rückschau nicht, dass Markert sich den Erwerb des Materials auch einiges kosten ließ. Die beiden „Hauslieferanten“ Krallert und von Hehn konnten sich durch ihre Verkäufe in den ersten Jahren der AfO ein durchschnittliches Monatseinkommen von etwa 300 Mark sichern. Zahlreiche Korrespondenzen in den Institutsarchiven belegen, dass Markert den beiden Arbeitsaufträge verschaffte, wo er nur konnte und sie überdies regelmäßig bei seinen Kolleg*innen für Jobs und kleinere Arbeiten empfahl. Markerts weit verzweigtes Netzwerk an Entscheidungsträger*innen war für Krallert und von Hehn buchstäblich überlebenswichtig. Auf dem regulären Arbeitsmarkt waren die beiden wegen ihrer NS-Vergangenheit zunächst nicht vermittelbar.

 

 

Werner Markert im großen   Übungsraum Osteuropa im Tübinger Hegelbau, etwa 1958, v.l.n.r:   Alexander Fischer, Werner Markert, Dietrich Geyer (Copyright: Institut   für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde).
Werner Markert im großen Übungsraum Osteuropa im Tübinger Hegelbau, etwa 1958, v.l.n.r: Alexander Fischer, Werner Markert, Dietrich Geyer (Copyright: Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde).

Markert wiederum profitierte von den Karten- und Buchbeständen, sicherten sie ihm und der AfO doch überhaupt erst die Arbeitsgrundlage. Innerhalb weniger Jahre wurden er und „seine“ AfO so zu einer der ersten Adressen, wenn es in Bonn darum ging, wissenschaftliche Expertise für die Ministerien und Behörden einzukaufen. Die politische Großwetterlage im frühen Kalten Krieg machte wissenschaftliche Gutachten und Memoranden über den Blockgegner für politische Stellen unabdingbar. Dass Markert die Forschungsarbeit der AfO entgegen des „traditionellen“ Polen-Fokus der Ostforschung auf die gegenwartsbezogene Sowjetunion hin ausrichtete, traf daher den antikommunistischen Nerv des politischen Betriebs.[6] So fragten zum Beispiel das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen sowie das Verteidigungsministerium bei Markert an, ob er vertrauliche Denkschriften und Memoranden für sie verfassen könne. Man sei sich im Ministerium darüber bewusst, dass die AfO einen beachtlichen Kartenfundus besitze; die AfO und Markert seien daher gebeten, ausführlich über die Infrastruktur Polens und der Tschechoslowakei zu berichten. Markert solle Einschätzungen und Angaben zum Bahnstreckennetz, Brücken, Tunneln, (Verlade-)Bahnhöfen und zur Wasserversorgung machen. Dabei solle er insbesondere möglichst detailliert auf die Anzahl und Typen der verwendeten Lokomotiven eingehen und die Kohlevorräte der staatlichen Eisenbahn einschätzen. Diese Fragen sollten vor dem Hintergrund der militärischen Verwendbarkeit dieser Infrastrukturen und der Frage nach den sowjetischen Einflussmöglichkeiten auf eine mögliche Mobilmachung bearbeitet werden.[7] Markert hatte für die staatlichen Stellen und solche Anfragen stets ein offenes Ohr und pendelte daher regelmäßig zwischen Tübingen und der Bundeshauptstadt. Dort avancierte er in den Büros verschiedener Ministerien und der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum gern gesehen Gast und nahm immer öfter auch an geheimen Ministerbesprechungen teil.

 

Als Markert 1965 im Alter von knapp 60 Jahren in Tübingen starb, war er einer der einflussreichsten Professoren an der Universität Tübingen.[8] Doch auch außerhalb des Tübinger Universitätskosmos war Markert zum geachteten Kollege geworden. Seine (bis heute) umstrittenen Tätigkeiten im „Dritten Reich“, etwa als Schriftleiter und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas (heute: Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde) und als SS-Sonderführer an den Schreibtischen der militärischen Abwehr hatten Markerts Fortkommen nach dem Krieg offenkundig nicht behindert.[9] Markert hatte sich den NS-Behörden willentlich angedient, wenngleich er wissenschaftliche Standards gegenüber dem Regime nicht völlig preisgegeben hatte. Ungeachtet dessen konnte er nach Kriegsende schnell wieder Fuß fassen. Sein seit den 1930er-Jahren gepflegtes Netzwerk aus Studienfreund*innen, Kriegskamerad*innen und Wissenschaftler*innen ermöglichte es ihm, in der Bundesrepublik eine steile wissenschaftliche Karriere hinzulegen. Als gepriesener „Wissenschaftsorganisator“ übte er weit über Fachgrenzen hinweg Einfluss aus. Für die Ostforschung und ihre Vertreter*innen, die sich während der Nachkriegszeit und den 1950er-Jahren rekonstituierten – und vor allem um ihre Rehabilitierung rangen – war Markert so zu einer der Schlüssel- und Lenkfiguren geworden.

 

Im Gegensatz zu vielen seiner Kolleg*innen war Markerts wissenschaftliche Produktivität vergleichsweise niedrig. Er gehörte bis Ende der 1940er-Jahre auch nicht zu dem engeren Kreis historischer Fachvertreter*innen, die über Jahrzehnte hinweg die Geschicke des Faches gelenkt hatten. Markert verstand es allerdings, sich immer wieder neu im Geflecht von Wissenschaft und Politik zu positionieren, um sich (finanzielle) Ressourcen zu sichern und seine eigene Position zu stärken.[10] Aus Sicht der Bonner Stellen sollte Markert mit der AfO einen Neuanfang der Osteuropaforschung leisten. Dieser schreckte aber auch nach 1945 nicht davor zurück, seine Arbeit als Auftrags- oder Ressortforschung zu begreifen. Die Osteuropaforschung blieb für ihn eine politische Wissenschaft, wenngleich bei weitem nicht von derselben militarisiert-revisionistischen Qualität der Ostforschung im Dritten Reich.

 

Markerts Umgang mit den personellen wie materiellen Kontinuitäten der Ostforschung war, vorsichtig gesagt, problematisch. Er ließ sich ungeniert von zahlreichen schwerbelasteten NS-Täter:innen zuarbeiten und nutze seine persönlichen Netzwerke ganz bewusst dazu, diese zu protegieren und zu versorgen. Die Vergangenheit seiner Mitarbeiter:innen ließ ihn kalt; ihr Nutzen für seine Arbeit war schlicht zu groß.

 

Der Gründungsdirektor des Tübinger Osteuropa-Instituts hatte die Rolle als vermeintlich entlasteter „Erbe“ der Ostforschung in der Bundesrepublik angetreten. Er wurde aber in vielerlei Hinsicht so auch zu einem der Verwalter der Erbmasse der kriegerischen Ostforschung, dessen materielle Hinterlassenschaften sich bis heute in den Kellern zahlreicher Institute und Forschungseinrichtungen finden.

 

Ein Beitrag von Thorsten Zachary


Fußnoten:

[1] Dazu Kucher, Katharina et al., Kriegsbeute in Tübingen. Eine Urkunde Peters des Großen, Seilschaften der Osteuropaforscher und die Restitution, in: Osteuropa 66 (2016), H. 11-12, S. 149–167.

[2] „Zarenurkunde geht zurück an Ukraine“, Pressemitteilung der Universität Tübingen, 14.03.2019, https://uni-tuebingen.de/universitaet/aktuelles-und-publikationen/pressemitteilungen/newsfullview-pressemitteilungen/article/zarenurkunde-geht-zurueck-an-ukraine/ [letzter Aufruf 11.11.2021].

[3] Vgl. Anja Heuss, Die „Beuteorganisation“ des Auswärtigen Amtes. Das Sonderkommando Künsberg und der Kulturgutraub in der Sowjetunion, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1997), H. 4, S. 535–556 [Volltext online].

[4] Laba, Agnes, Publikationsstelle Berlin-Dahlem, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, Berlin/Boston 2017, S. 1554–1564.

[5] Zu Stumpp siehe Schmaltz, Eric J./Sinner, Samuel, Karl Stumpp, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, Berlin/Boston 2017, S. 816–820.

[6] Vgl. Hackmann, Jörg, Ein Abschied auf Raten. Ostforschungstraditionen und ihre Nachwirkungen in der bundesdeutschen Ostmitteleuropaforschung, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar (Hrsg.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn 2010, S. 347–361.

[7] Vgl. Vorgang: BMG an Markert (streng vertraulich!), 17.07.1953, Universitätsarchiv Tübingen (UAT) 792/110.

[8] Daniels, Mario, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Institutionalisierungsprozesse und Entwicklung des Personenverbands an der Universität Tübingen 1918–1964. Stuttgart 2009, S. 341.

[9] Vgl. Beyrau, Dietrich, Ein unauffälliges Drama. Die Zeitschrift Osteuropa im Nationalsozialismus, in: Osteuropa 55 (2005), H. 12, S. 57–67.

[10] Vgl. Ash, Mitchell G., Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander. Programmatische Überlegungen am Beispiel Deutschlands, in: Jürgen Büschenfeld/Heike Frank/Frank-Michael Kuhlemann, Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen, Bielefeld 2001, S. 117–134. 


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