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Die Geschichte der „Schelling“ – Besatzung und Besetzung I

Besetzung der Schellingstraße 6 im Juni 1980. Bild: Erich Buder.
Besetzung der Schellingstraße 6 im Juni 1980. Bild: Erich Buder.

Eine besetzte Kaserne in der Südstadt

„Die Thiepval-Kaserne ist soeben besetzt worden“[1], lautete die Durchsage bei einem Konzert in der Tübinger Mensa in der Nacht vom 18. Juni 1980. „Alle Anwesenden werden aufgefordert, sofort zur Unterstützung der Besetzer in die Südstadt zu kommen.“[2] Daraufhin zogen mehrere Hundert Personen durch die Stadt, hinter den Bahnhof, in die Schellingstraße 6.

 

Wohnungsnot und Leerstand

Die Wohnungssituation in Tübingen hatte sich Ende der 1970er Jahre zugespitzt. Besonders Studierende, Arbeitslose, Auszubildende und Schüler*innen hatten es schwer, günstigen und gemeinschaftlichen Wohnraum zu finden. Oftmals stellten die Vermieter*innen strenge Bedingungen: kein Besuch, Abwesenheit am Wochenende, Renovierung in Eigenarbeit und auf eigene Kosten und mehrere Monatsmieten im Voraus.[3] Gleichzeitig verbreitete sich unter den Jüngeren das Wissen um die vielen leerstehenden Wohnungen und Häuser in der Stadt. Darunter fielen auch die von der französischen Besatzung zurückgelassenen Kasernengebäude.[4] In anderen Städten hatten sich bereits Gruppen zum „Häuserkampf“ formiert und setzten sich sich gegen Leerstand, Mietwucher und Spekulation und für selbstbestimmte Räume ein. In Amsterdam, Berlin-Kreuzberg, Zürich und auch in süddeutschen Städten wie Freiburg war es zu einigen Besetzungen gekommen, die teilweise mit massiver Polizeigewalt wieder geräumt wurden.[5] Dies hielt die Hausbesetzer*innen in Tübingen jedoch nicht davon ab, sich dieser europaweit aktiv werdenden Bewegung anzuschließen.

 

Die Besetzer*innen hinter dem besetzten Gebäude  Bild: Erich Buder.
Die Besetzer*innen hinter dem besetzten Gebäude Bild: Erich Buder.

Der Tübinger „Häuserkampf“

Die Landesregierung hatte die Vertretung und Selbstverwaltung der Studierendenschaft seit 1973 zunehmend eingeschränkt und schließlich ganz abgeschafft. Als Gegenreaktion waren die unabhängigen Fachschaftsräte entstanden.[6] Ihre Vollversammlungen waren von nun an der wichtigste politische Diskussions- und Selbstorganisationsort der Tübinger Studierenden.[7] Als zum Wintersemester 1979/1980 ca. 300 Studierende ihr Studium aufgrund der hohen Mieten aufgeben mussten  es wurde mitunter von einem „sozialen Numerus Clausus“ gesprochen  , wurde auf Initiative des Fachschaftsrats eine politische Selbsthilfegruppe mit dem Namen „Schöner Wohnen“ gegründet [8] – ein Netzwerk, das trotz wechselnder Formen bis heute existiert. Aus der „Schöner Wohnen“-Initiative entsprang auch die Tübinger Hausbesetzer*innenszene. Ihre erste Aktion war die Besetzung der Ludwigstraße 15 im Herbst 1979, neben dem heutigen Kaufland am Sternplatz.

 

Ein knappes Jahr später folgte die Besetzung des ehemalige Stabsgebäude der Thiepval-Kaserne in der Schellingstraße 6. Etwa ein Dutzend Besetzer*innen sprangen von der Schellingstraße her über die alte Kasernenmauer, knackten das Schloss und beendeten damit den Leerstand. Durch eine Telefonkette wurden weitere Personen zur Unterstützung benachrichtigt. Noch in derselben Nacht wandten sich die Besetzer*innen mit einem Flugblatt an die Öffentlichkeit, in dem sie selbstbestimmtes und gemeinschaftliches Wohnen für Studierende, Auszubildene, Schüler*innen und Arbeitslose forderten.[9]

Flugblatt zur Hausbesetzung der Schellingstraße 6 (18.6.1980). Bild: Schelling-Archiv.
Flugblatt zur Hausbesetzung der Schellingstraße 6 (18.6.1980). Bild: Schelling-Archiv.

Übernahme durch das Studentenwerk

Nur fünf Tage nach der Besetzung wurde dem neu gegründeten „Studentenwerk als Anstalt des öffentlichen Rechts“ (StuWe A.d.ö.R.) vom Bundesvermögensamt die Trägerschaft des Gebäudes für 15 Jahre angeboten.[10] Von Selbstverwaltung hielt das StuWe A.d.ö.r. aber nicht viel: Es wurde eine begrenzte Wohnzeit festgelegt, ein Hausmeister angestellt, die Bewohner*innen wurden durch die Studentenwerksverwaltung zufällig zugeteilt. Gemeinschaftsräume gab es nicht und Arbeitenden, Lehrlingen, Alleinerziehenden sowie Arbeitslosen wurde das weitere Wohnen im Gebäude enorm erschwert.[11] Auch andere besetzte Häuser wie die Münzgasse 13, die Eugenstraße 55-57 und das Schimpfeck übernahm das StuWe A.d.ö.r. günstig und verwaltete sie auf diese Weise.

 

Leserbrief Schwäbisches Tagblatt 30.12.2003.
Leserbrief Schwäbisches Tagblatt 30.12.2003.

Die Vision geht nicht verloren

Die übrig gebliebenen Besetzer*innen gaben jedoch ihre ursprünglichen Vorstellungen vom Zusammenleben nicht auf. Sie gründeten die „Bahamas-Kommune“ (benannt nach einem Wandbild bei der Besetzung), das „Lummerland“ (ein Gruß an den damaligen, für seine Häuser-Räumungen berüchtigten Berliner Innensenator Heinrich Lummer) und das „Treibhaus“ unterm Dach. Türschlösser wurden ausgetauscht, um die Hausverwaltung draußen zu halten, gemeinsame WG-Klingeln und Briefkästen eingerichtet und neue Mitbewohnende, soweit es ging, selbst bestimmt. Immer mehr organisierten sich die einzelnen Stockwerkshälften zu Wohngemeinschaften. Sie gestalteten ihren Alltag, den gemeinschaftlichen Wohnraum, das Haus und den Garten zusammen. 1982 ließ das StuWe A.d.ö.R. hinter dem Stabsgebäude im Garten zwei Häuser errichten, in die weitere 56 Studierende einzogen. Einen Austausch zwischen Stabsgebäude und neu errichteten Hinterhäusern gab es lange nicht. Für die Aktiven von vorne waren die Bewohner*innen der Hinterhäuser nicht an Gemeinschaft interessiert. Für die hinten Wohnenden galten jene aus dem Vorderhaus als „RAF-Sympathisanten“, weil oftmals linkspolitisch aktiv. Ende der 1980er Jahre änderte sich dies und die drei Gebäudeteile wuchsen durch die Idee einer gemeinsamen Selbstverwaltung immer enger zusammen. Bald fingen die Bewohner*innen der „Schelling“ an, den Keller auszubauen. Es wurde eine „Hausbar“ eingerichtet, in der politische Veranstaltungen, Konzerte und Partys veranstaltet werden konnten. Im Keller wurden auch die ersten Haus-Vollversammlungen abgehalten, in denen über die Zukunft der Schelling diskutiert wurde.[12] Über die nächsten Jahre wurde die Schelling als Ort für Politik und Kultur regional und überregional bekannt.

Der Weg zur Selbstverwaltung / Hauskauf

Kurz vor Weihnachten 1999 erfuhren die Bewohner*innen, dass das gesamte Kasernen-Areal verkauft werden solle. Daraufhin beschlossen sie in einer Haus-Vollversammlung, die Häuser selbst zu erwerben. Doch mit welchem Geld?[13] In dieser Zeit erfuhren sie von dem Modell des „Mietshäuser Syndikats“ aus Freiburg. Hier hatte die alte Hausbesetzer*innen-Forderung „Die Häuser denen, die drin wohnen“ durch Selbstverwaltung, Gemeineigentum und Verhinderung späterer Weiterverkäufe institutionelle Form erhalten. Die Syndikatsprojekte unterstützen sich finanziell durch gegenseitige Kredite.[14] Mit fast einer halben Million Euro Direktkredite ergab sich eine realistische Finanzierungsmöglichkeit für ein Wohnprojekt in der Schellingstraße.[15] Durch engagierte Öffentlichkeitsarbeit wie Aktionen in der Innenstadt, Leser*innenbriefe, Flugblätter, Radio- und Fernsehbeiträgen und schließlich eine Demonstration mit 600 Teilnehmenden gelang es den Aktivist*innen, Druck aufzubauen.[16] Nach fünf Jahren zähen Ringens fand schließlich im August 2004 im Garten der Schelling die Unterzeichnung des Kaufvertrags mit Notar und dem Vertreter des Bundesvermögensamtes statt.[17]

Heute, über 40 Jahre nach der Besetzung, ist das Wohnprojekt Schellingstraße ein kultureller, sozialer und politischer Ort sowie der Wohnraum von über 100 Menschen. Renter*innen, Familien, Studierende, Arbeitende und Arbeitslose verwalten sich nach basisdemokratischem Konsens und mit viel Engagement selbst. 

 

Ein Beitrag von Marleen Buschhaus

Das Wohnprojekt Schellingstraße heute. Bild: Bewohner*innen des Wohnprojekts „Schelling".
Das Wohnprojekt Schellingstraße heute. Bild: Bewohner*innen des Wohnprojekts „Schelling".


Literatur:

Amann, Marc / Riethmüller, Ingo: Alternative Rüstungskonversion – Das Wohnprojekt Schellingstraße. In: Möller, Matthias (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009. 

Mietshäusersyndikat: https://www.syndikat.org/de/ (letzter Zugriff: 15.11.2021).

Mietshäusersyndikat (Hg.): Rücke vor zur Schlossallee. Selbstorganisiert wohnen, solidarisch wirtschaften. Freiburg 2008.

Willems, Helmut: Jugendunruhen und Protestbewegungen. Eine Studie zur Dynamik innergesellschaftlicher Konflikte in vier europäischen Ländern. Opladen 1997.

Wohnprojekt Schellingstraße: https://www.schellingstrasse.de/gebaeude/ (letzter Zugriff: 15.11.2021).

 

Fußnoten: 

[1] O.N. nach Marc Amann / Ingo Riethmüller: Alternative Rüstungskonversion – Das Wohnprojekt. In: Matthias Möller (Hg.): Still gestanden? Die Geschichte einer alten Kaserne. Tübingen 2009, S.139-150, S. 139.

[2] Ebd.

[3] Vgl. Fachschaftsrat-Vollversammlung 1981, S.280-298.

[4] Vgl. Amann / Riethmüller 2009, S.140.

[5] Hierzu Helmut Willems: Jugendunruhen und Protestbewegungen. Eine Studie zur Dynamik innergesellschaftlicher Konflikte in vier europäischen Ländern, Oppladen 1997.

[6] Vgl. Fachschaftsrat-Vollversammlung 1981, S.19-34.

[7] Vgl. Amann / Riethmüller 2009, S.140.

[8] Vgl. Fachschaftsrat-Vollversammlung 1981, S.121-129.

[9] Vgl. Amann / Riethmüller 2009, S.140.

[10] Vgl. Amann / Riethmüller 2009, S.142.

[11] Vgl. Schwäbisches Tagblatt 20.1.1981

[12] Vgl. Amann / Riethmüller 2009, S.145f.

[13] Vgl. Amann / Riethmüller 2009, S.147.

[14] Vgl. Mietshäusersyndikat: Rücke vor zur Schlossallee. Selbstorganisiert wohnen, solidarisch wirtschaften, 2008.

[15] Vgl. Amann / Riethmüller 2009, S.147f.

[16] Wohnprojekt Schellingstraße, 15.11.2021.

[17] Vgl. Amann / Riethmüller 2009, S.149.


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Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Lisa (Mittwoch, 24 November 2021 08:42)

    Spannender Artikel!! Danke für den tollen Blog!

  • #2

    Steffen (Donnerstag, 25 November 2021 12:02)

    Mega Interessant! Ich war selbst einmal in der Schelling zu Gast! Ein toller Ort!

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