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In 80 Tagen um die Welt: eine kolonialhistorisch reflektierte Aufführung des jungen LTT

v.l.n.r.: Daniel Hölzinger, Jonas Breitstadt, Kristin Steinhütte, Rupert Hausner. Bild: Martin Sigmund / LTT, Abdruck honorarfrei.
v.l.n.r.: Daniel Hölzinger, Jonas Breitstadt, Kristin Steinhütte, Rupert Hausner. Bild: Martin Sigmund / LTT, Abdruck honorarfrei.

Jules Vernes Roman „In 80 Tagen um die Welt“ aus dem Jahr 1873 beschreibt die Reise des Engländers Phileas Fogg. Dieser schließt in seinem Reformclub die Wette ab, dass er in der Zeit von 80 Tagen einmal um die ganze Welt reisen könne. Gemeinsam mit seinem frisch eingestellten Diener Passepartout bricht Fogg deshalb kurz daraufhin auf, um seine Idee in die Tat umzusetzen. Zur gleichen Zeit fahndet ein weiterer Protagonist des Romans, Detektiv Fix, nach einem berüchtigten Bankräuber. Anhand der Personenbeschreibung meint Fix, dass es sich dabei um Phileas Fogg handeln müsse. Während er den beiden hinterherreist, freundet sich Fix mit Passepartout an. In Kalkutta muss die Gruppe ihr eigentliches Verkehrsmittel, die Eisenbahn, zurücklassen, und auf einem Elefanten weiterreisen. Im indischen Dschungel können sie die junge Witwe Aouda in letzter Sekunde vor dem Scheiterhaufen bewahren. Die weitere Geschichte ist durchzogen von weiteren unerwarteten Wendungen und Schicksalsschlägen, die den straffen Zeitplan Foggs und seiner Gefährt*innen durcheinanderbringen. Schließlich schaffen es die vier Reisenden dennoch bis nach London – jedoch wähnen sie sich einen Tag zu spät. Da Aouda und Phileas beschlossen haben zu heiraten, schicken sie Passepartout zu einem Priester. Hier fällt ihnen der Fehler in ihrer Zeitrechnung auf: da sie in Richtung Osten gereist sind, haben sie durch die Verschiebung der Datumsgrenze einen Tag gewonnen. So schafft es Mr. Fogg doch noch, fast auf die Sekunde genau im Reformclub zu erscheinen – und am Ende seine Wette zu gewinnen.  

 

„In 80 Tagen um die Welt“ beruht auf einer historischen Begebenheit: der ersten Weltreise des Amerikaners George Francis Train im Jahre 1870. Trains Reise war nur möglich, da ein Jahr zuvor der Suezkanal geöffnet und die Eisenbahnstrecke durch die USA fertiggestellt wurden. Der Roman ist somit auch eine Ode an die technischen Entwicklungen Ende des 19. Jahrhunderts, durch die es erstmals möglich war, eine solche Reise in 80 Tagen zu bewältigen. Doch die Geschichte bietet für interessierte Leser*innen noch weitere historische Hintergründe, so zum Beispiel zur Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus im 19. Jahrhundert. Großbritannien wollte mit einer Unterwerfungsstrategie seine Machtposition ausbauen und hatte somit einen massiven Einfluss auf Indien. Unter Premierminister Benjamin Disraeli nahm diese Expansionspolitik systematische Formen an, jedoch wurde diese Machtstellung ab 1871, unter anderem durch die deutsche Kolonialpolitik durch Otto von Bismarck, gefährdet.

v.l.n.r.: Daniel Hölzinger, Kristin Steinhütte. Bild: Martin Sigmund / LTT, Abdruck honorarfrei.
v.l.n.r.: Daniel Hölzinger, Kristin Steinhütte. Bild: Martin Sigmund / LTT, Abdruck honorarfrei.

Dieses Werk um die Phileas Fogg brachte das junge LTT (Landestheater Tübingen) unter der Regie von Fanny Brunner mit einer Premiere am 10. Juli 2020 in mehreren Aufführungen auf die Bühne. Dabei wurden als Darsteller*innen vier Clowns gewählt, die nacheinander die Bühne betreten und zunächst stumm die dort befindlichen Requisiten inspizieren. Auf dem Boden befindet sich eine zeitgenössische Weltkarte, auf der im Laufe des Stückes die Reisestrecke von Fogg und seinen Begleiter*innen markiert wird.

 

Mit dem Ticken mehrerer Uhren beginnt die Inszenierung der Reise des Phileas Fogg, die durch eine Erzählstimme aus dem Hintergrund vorgetragen wird. Auf Bildern, die mithilfe eines Beamers auf eine Leinwand projiziert werden, wird die jeweilige Teilstrecke der Reise aufgezeigt. Während der Erzählung stellen die Darsteller*innen einzelne Szenen pantomimisch nach: so z.B. das Abschließen der Wette durch gemeinsames Anstoßen im Reformclub, die Reise auf dem Schiff und dessen Vibrationen durch pantomimische Bewegungen oder auch das Reiten auf dem Elefanten. Die vier Clowns wechseln während der Aufführung kaum ein Wort miteinander, folgen nur der Erzählung. 

 

Dieses Werk um die Phileas Fogg brachte das junge LTT (Landestheater Tübingen) unter der Regie von Fanny Brunner mit einer Premiere am 10. Juli 2020 in mehreren Aufführungen auf die Bühne. Dabei wurden als Darsteller*innen vier Clowns gewählt, die nacheinander die Bühne betreten und zunächst stumm die dort befindlichen Requisiten inspizieren. Auf dem Boden befindet sich eine zeitgenössische Weltkarte, auf der im Laufe des Stückes die Reisestrecke von Fogg und seinen Begleiter*innen markiert wird.

 

Mit dem Ticken mehrerer Uhren beginnt die Inszenierung der Reise des Phileas Fogg, die durch eine Erzählstimme aus dem Hintergrund vorgetragen wird. Auf Bildern, die mithilfe eines Beamers auf eine Leinwand projiziert werden, wird die jeweilige Teilstrecke der Reise aufgezeigt. Während der Erzählung stellen die Darsteller*innen einzelne Szenen pantomimisch nach: so z.B. das Abschließen der Wette durch gemeinsames Anstoßen im Reformclub, die Reise auf dem Schiff und dessen Vibrationen durch pantomimische Bewegungen oder auch das Reiten auf dem Elefanten. Die vier Clowns wechseln während der Aufführung kaum ein Wort miteinander, folgen nur der Erzählung.

 

v.l.n.r.: Daniel Hölzinger, Kristin Steinhütte, Rupert Hausner, Jonas Breitstadt. Bild: Martin Sigmund / LTT, Abdruck honorarfrei.
v.l.n.r.: Daniel Hölzinger, Kristin Steinhütte, Rupert Hausner, Jonas Breitstadt. Bild: Martin Sigmund / LTT, Abdruck honorarfrei.

 

Doch das Stück endet nicht mit der Rückkehr der Reisenden nach England. Es folgt eine historische Reflexion der Geschichte des Kolonialismus, die so eng mit dem Roman verwoben ist – und eine konkrete Bezugnahme auf unser heutiges koloniales Erbe.

Zunächst stellen sich die Clowns gegenseitig Fragen bezüglich ihrer Herkunft, die teilweise auch direkt an den Zuschauer gerichtet werden: „Wo kommst du denn her? Darf ich mal deine Haare anfassen? Du siehst aber interessant aus!“ – alles Anzeichen von kolonialen und rassistischen Denkmustern, die noch stets in unserer Gesellschaft verankert sind. Im weiteren Verlauf des Gespräches stellt sich nämlich heraus, dass alle Figuren trotz äußerlicher Unterschiede aus Städten innerhalb von Deutschland kommen. Außerdem zeigen sie durch ihre Identität als Clowns eine gewisse Distanz zu gesellschaftlichen Stigmata, da sie nicht als Menschen aus europäischen oder kolonisierten Gebieten gezeigt werden. Dies kommt vor allem in dem Satz „Ich bin doch nur ein Clown!“ zur Geltung.

Danach werden Bilder aus kolonialen Kontexten auf die große Leinwand projiziert. Dabei drehen sich die Darsteller*innen mit dem Rücken zum Publikum und hin zur Leinwand und setzen sich – fast schon demütig – auf den Boden. Auch die Zuschauer*innen sind dabei ganz still und betrachten diese Bilder, auf denen meist Menschen aus kolonisierten Ländern zusammen mit Europäer*innen gezeigt werden. Die Bilder zeigen dabei das Machtverhältnis zwischen diesen beiden Personengruppen auf: Die Kolonisierten verrichten Arbeiten auf Plantagen für die Kolonisierenden, oder transportieren diese auf einer Trage.

Am Ende verabschieden sich die Schauspieler*innen mit einem live gesungenen Lied mit dem Refrain „In zwei- bis dreihundert Jahren wird das Leben auf der Welt ein ganz anderes sein.“ Denn wer weiß, von welchen Denkmustern wir uns – hoffentlich ­– in ein paar Jahrhunderten distanziert haben. 

 

Ein Beitrag von Melanie Becker


Literatur:

http://geschichtsverein-koengen.de/Kolonialismus.htm#Imperialismus (letzter Aufruf am 23.11.2020).


Vielen Dank an das LTT für das Bereitstellen der Bilder: Martin Sigmund / LTT. Die Beschreibungen beziehen sich auf die Aufführung des jungen LTT vom 11.10.2020.


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