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Eine stolpernde Erinnerungskultur?!


Stolpersteine von Familie Maier in der Kaiserstraße 117. Bild: Franziska Gaibler.
Stolpersteine von Familie Maier in der Kaiserstraße 117. Bild: Franziska Gaibler.

Die Frage danach, welche Gedenkform nun am geeignetsten ist, um im regionalen Raum an die Schoah zu erinnern, bringt immer wieder neue Debatten hervor. Auch die Stadt Reutlingen ist auf unterschiedliche Art und Weise aktiv um die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit bemüht. Vor allem hinsichtlich der Zeit des Nationalsozialismus wird die vielfältige Gedenkkultur deutlich: durch Denkmäler, regelmäßige Stadtführungen und interaktive, medial begleitete Rundgänge mittels einer App sowie durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen zur Rolle der Stadt generell aber zu auch Einzelschicksalen.

 

Im Jahr 2014 entwickelten die lokalen Entscheidungsgremien – auf Anstoß der Frauengeschichtswerkstatt[1], die Geschichte von Reutlinger Frauen dokumentiert – ein umfassendes Gedenkkonzept, welches die bis dato bestehenden Angebote erweitern sollte. Ein Teil dieses Konzepts war die Verlegung von vier Stolpersteinen, die an das Schicksal der jüdischen Mitbürger*innen Babette, Adolf, Gerhart und Hannelore Maier erinnern sollten. Die Stuttgarter Nachrichten bezeichneten den Entscheidungsprozess in einem Artikel vom April 2017 als ein „Ringen um das richtige Gedenken“[2]. Dieses Ringen spiegelte die größere geschichtspolitische Debatte um Stolpersteine als geeignetes Medium bezüglich des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus auf lokaler Ebene wider. Die Fragen um das „richtige Gedenken“ zeigten sich hier konkret.

 

Die Geschichte der Familie Maier

Familie Maier, bestehend aus Babette, genannt Bea, und Adolf Maier sowie ihren beiden Kindern Hannelore und Gerhart, lebte in der Kaiserstraße 117 in Reutlingen ein ungestörtes und gänzlich unauffälliges Leben. Adolf Maier betrieb ein kleines Geschäft, die beiden Kinder gingen in Reutlingen zur Schule.

 

Hannelore Maier und ihren Eltern Adolf und Babette, 1928. Bild: StadtA Rt. N 46 Nr. 142/80.
Hannelore Maier und ihren Eltern Adolf und Babette, 1928. Bild: StadtA Rt. N 46 Nr. 142/80.

Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen 1933 begann die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Familie. Die zunehmend repressiv-rassistische Politik Hitlers – beginnend mit dem Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 bis hin zu der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze 1935 – trieb Adolf Maier in den finanziellen Ruin. Im Februar 1936 nahm sich der Familienvater das Leben. Babette Maier gelang es, ihre beiden Kinder im Februar 1936 und im September 1938 ins Exil nach England zu schicken. Sie selbst wurde im Oktober 1938 im Zuge der „Wagner-Bürckel Aktion“ zunächst gemeinsam mit rund 6.500 Jüdinnen und Juden aus Südwestdeutschland in das Internierungslager Gurs in Frankreich deportiert. Den beiden Gauleiter Robert Wagner und Josef Bürckel wurden nach der Eroberung Frankreichs am 2. August 1940 die Gebiete Elsass und Lothringen zugeteilt, in denen sie der der Zivilverwaltung vorstanden. Im Zuge einer Waffenstillstandsvereinbarung mit Frankreich Ende Juni 1940 wurde vereinbart, dass alle Menschen jüdischen Glaubens aus den deutschen Besatzungsgebieten in das Landesinnere Frankreichs deportiert werden sollten. Auf eine Anweisung Hitlers, die Gaus „judenfrei“ zu machen, planten die Gauleiter die systematische Deportation der Jüdinnen und Juden aus Südwestdeutschland. Die Deportation begann in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1940, am Abschluss des jüdischen Laubhüttenfests Sukkot, da die Familien beisammen waren, um das Fest gemeinsam zu feiern und so dem Leben ihrer Vorfahren während dem Auszug aus Ägypten[3] zu gedenken.

 

Bis zu ihrer Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau im August 1942 hielt Babette Maier Briefkontakt zu ihren Kindern. In den Briefen wurde einerseits das ihr widerfahrene Leid deutlich, aber andererseits auch ihre Hoffnung, dass eine Ausreise in die USA doch noch möglich sein könnte. Mit ihrer Deportation erlosch diese Hoffnung allerdings endgültig. Babette Maier wurde im KZ Auschwitz Birkenau getötet. Am 31. August 1942 wurde sie für tot erklärt. Ihre beiden Kinder überlebten die Schoah und bauten sich ein Leben in England auf. [4]

 

Die Aufarbeitung des tragischen Schicksals von Familie Maier begann im Januar 2014. In diesem Monat lag dem Gemeinderat eine Vorlage zu einem Gedenkkonzept vor, welches von „Die Grünen und Unabhängigen“, einem kommunalen Arbeitskreis in Reutlingen, erarbeitet wurde.  Befürworter*innen und vor allem Initiator*innen für die Verlegung der Stolpersteine waren die Mitglieder der Frauengeschichtswerkstatt. Zusätzlich zu diesem Antrag wurde am 12. März 2015 noch ein interfraktioneller Antrag von den Grünen, der SPD und den Freien Wählern gestellt. Die beteiligten Parteien forderten die Annahme des Antrags der Frauengeschichtswerkstatt auf Verlegung der Stolpersteine, unabhängig von dem Ergebnis der Debatte über das geforderte Gedenkkonzept der Grünen und Unabhängigen.

 

In den beiden Anträgen spielte Restitution keine Rolle. Stattdessen wurde damit argumentiert, dass die Hinterbliebenen der Opfer sowie Hannelore Maier selbst sich ausdrücklich für diese Gedenkform ausgesprochen hatten.

Bedenken äußerte hingegen der Kulturamtsleiter Werner Ströbele. Ähnlich wie Charlotte Knobloch, die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, empfand Ströbele diese Gedenkform als unpassend, da keine Erinnerung auf Augenhöhe stattfinde. So würden die Opfer der Schoah durch die Verlegung der Gedenksteine auf den Boden mit Füßen getreten werden. Es gebe Neonazis die Möglichkeit, symbolisch auf den Opfern herumzutrampeln.

 

Dem Antrag von 2014 wurde trotz Ströbeles Kritik zugestimmt.[5] Bei dieser letztlichen Einigung auf die Verlegung drei Jahre später spielte der Wunsch Hannelore Maiers nach einem Stolperstein für ihre Eltern sicherlich keine unerhebliche Rolle.

Da es sich bei der Verlegung von Stolpersteinen in Reutlingen um eine Erweiterung der Gedenkkonzeption handelt, wird damit nicht der Blick auf die Vergangenheit verändert, sondern stattdessen die regionale Vergangenheitsaufarbeitung neu aufgerollt und von einem neuen Blickwinkel aus betrachtet. So kann sichergestellt werden, dass die Beschäftigung mit der eigenen regionalen Vergangenheit immer wieder Thema der allgemeinen Debatte wird. Mit der Verlegung von Stolpersteinen vor Ort – einem europaweiten Gedenkkonzept, über welches auch regelmäßig in den Medien berichtet wird – findet zudem ein Gedenken statt, welches eventuell mehr Menschen erreicht.

 

Die Frage darüber, ob es nun die geeignetste Gedenkform ist, konnte in Reutlingen nicht endgültig geklärt werden. Ein Grundkonsens über den Bedarf einer Erweiterung des Konzepts schien dennoch vorhanden gewesen zu sein. Durch die vielfältigen weiteren Gedenkformen basiert die Erinnerungskultur vor Ort nicht nur auf den Stolpersteinen. Die Debatte rund um die richtige Gedenkform wird die Erinnerungskultur aller Wahrscheinlichkeit nach auch weiterhin lokal, aber auch bundesweit zum „Stolpern“ bringen. In Reutlingen scheinen Stolpersteine mittlerweile zum festen Repertoire der Erinnerungskultur zu gehören: erst im letzten Jahr verlegten Schüler*innen des Friedrich-List Gymnasiums einen Stein für den ehemaligen Lehrer Dr. Martin Berger.[6]

 

Ein Beitrag von Franziska Gaibler

Redaktionelle Überarbeitung von Maren Brugger


Fußnoten:

[1] Vgl. Homepage der Reutlinger Frauengeschichtswerkstatt unter http://fgwrt.bild-raum.de/index.php/Main/Wir (18.09.2022).

[2] Keck, Christine: Das lange Ringen ums richtige Gedenken, in: Stuttgarter Nachrichten (19.04.2017), unter: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stolpersteine-in-reutlingen-das-lange-ringen-ums-richtige-gedenken.270a9536-5046-4d0c-80a0-bbc7c4bf71e4.html (14.09.2022).

[3] Vgl. Konrad, Karoline/Reindl, Ana/Schneider, Werner/Vachtchenko, Diana/Weigel, Melanie: Jüdische Notenspuren. Sukkot – Laubhüttenfest. Hrsg: Notenspur Leipzig e.V. Leipzig 2021, S. 4.

[4] Serger, Bernd/Böttcher, Karin-Anne: Es gab Juden in Reutlingen – Geschichte, Erinnerungen, Schicksale. Hrsg: Stadtarchiv Reutlingen, Reutlingen 2005, S. 317–323.

[5] Antrag 14 107 01 und die dazugehörige Anlage: https://ris.reutlingen.de/programme/RIS/ris_web.nsf/documents_submission_cat.xsp (20.09.2021).

[6] Vgl. Böhm, Gabriele: Reutlinger Stolpersein ein Aufruf zur Zivilcourage, in: Reutlinger General-Anzeiger (11.06.2021) unter https://www.gea.de/reutlingen_artikel,-reutlinger-stolperstein-ein-aufruf-zur-zivilcourage-_arid,6450379.html (11.09.2022).


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