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Das Tagebuch der Anna Haag


Bild: Nicole Welz.
Bild: Nicole Welz.

„Ich werde die blaue Frühlingsluft in mich trinken – ganz ohne Angst, dass es aus ihrer Reinheit todbringende Geschosse regnen könnte. Ich werde ein kleines Lied summen, und alles Menschenglück wird wieder mein sein. […]“ [1]

 

Diese Worte der Erleichterung lassen sich auf dem Anna-Haag-Platz in Stuttgart-Sillenbuch, wo Anna Haag einst lebte, lesen. Dort sind elf Metallplatten angebracht, auf denen Zitate aus dem Tagebuch zu sehen sind, welches die Politikerin Anna Haag ab 1940 bis Kriegsende schrieb und versteckte. Bei diesem Zitat handelt es sich um den letzten Eintrag des Buches, welcher am 8. Mai 1945 verfasst wurde. Doch wer war die Politikerin? Wie authentisch ist das Tagebuch von Anna Haag? Handelt es sich um ihre zeitgenössischen Gedanken, wurde es mit der Absicht zur Veröffentlichung geschrieben oder ist es vielmehr ein später verfasster historischer Bericht?

 

Anna Haag wurde 1888 als Anna Schaich in Althütte, einer Gemeinde im Schwäbischen Wald, 40 Kilometer von Stuttgart entfernt geboren. Im Jahr 1909 heiratete sie Albert Haag und bekam mit ihm drei Kinder. Sie schrieb zunächst für deutsche Zeitungen und hatte nach dem Ersten Weltkrieg Erfolge als Schriftstellerin, u. a. mit dem autobiographischen Buch „Die vier Rosenkinder“, in welchem sie von ihrer Kindheit berichtete. In der NS-Zeit wurde ihr das Publizieren aufgrund ihrer Regimegegnerschaft verboten. Sie begann am 11. Mai 1940 ihr Tagebuch zu schreiben und versteckte es in ihrem Kohlekeller. Sie schloss sich nicht offen dem Widerstand an, sondern rebellierte eher im Privaten gegen die Nazis, indem sie BBC hörte oder Zwangsarbeiter*innen Essen gab.[2] Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Anna Haag in die Politik. Sie saß von 1946-1950 für die SPD im Baden‑Württembergischen Landtag und setzte sich dort zusammen mit anderen Frauen für den Zivildienst und die Abschaffung der Wehrpflicht ein. Von Anna Haag stammt folgendes baden-württembergische Landesgesetz aus dem Jahr 1948[3]: „Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“[4] Heute ist eine Variante dessen im Grundgesetz zu lesen: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“[5] Anna Haag starb 1982.[6]

 

Anna Haags Aufzeichnungen sind kein Tagebuch im klassischen Sinne. Zwar enthalten sie viele Eindrücke aus der Gedanken- und Gefühlswelt der Regimegegnerin, wie für ein Tagebuch üblich. Haag zeigt sich zum Beispiel erschüttert über die Machenschaften des NS-Regimes, bangt um ihre Kinder und stellt nationalsozialistische Nachbarn an den Pranger. Dies zeigt zum Beispiel der Eintrag vom 22.05.1940: „Nie in meinem Leben habe ich meine Ohnmacht so schmerzvoll empfunden, wie in den gegenwärtigen Tagen. Meine drei Kinder müssen sich ohne meine Hilfe durch die dunklen Straßen des Lebens durchfinden.“[7]

 

 

Bild: Nicole Welz.
Bild: Nicole Welz.

Besonders ist jedoch, dass den Aufzeichnungen oft auch Zeitungsberichte über das Geschehene beigefügt sind. Auch die Art, wie Haag manche Einträge verfasst hat, lässt vermuten, dass sie die Intention hatte, ihre Erkenntnisse später mit der Öffentlichkeit zu teilen, was zum Beispiel dieser Eintrag vermuten lässt: „Je mehr ich die Nazis hasse, umso mehr werde ich selbst Nazi. […] Es gibt doch auch ein anderes Deutschland. Wo ist es?“[8] Anna Haag wollte ihre Aufzeichnungen umgehend nach Kriegsende veröffentlichen, allerdings wollte kein Verlag diese drucken.[9] Im März 2021 erschien ihr überarbeitetes Tagebuch erstmals nach über 75 Jahren beim Reclam-Verlag unter dem Titel „Denken ist heute überhaupt nicht mehr in Mode“.

 

Doch die Rezeption war durchaus zwiegespalten, wie das folgende Beispiel zeigt. Manche Einträge wurden im Nachhinein von ihrer Verfasserin geändert. Als das Tagebuch am 12. März 2021 auf Deutsch unter dem Titel „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“ veröffentlicht wurde, führte das zu einer Kritik des Autors Günter Randecker. Zwei Monate später bemängelte er in der KONTEXT:Wochenzeitung, dass die herausgegebene Ausgabe nicht auf Haags Originalmanuskripten, sondern auf einem von ihr bearbeiteten Typoskript basiere. Haag habe nicht nur Stadt und Firmennamen nachträglich geändert, sondern sei mit ihren Aufzeichnungen auch sehr frei umgegangen, so Randecker. Sie habe Einträge nach vorne gezogen, gekürzt oder hinzugefügt und berichte von Ereignissen, Monate bevor diese passiert waren.[10]

Außerdem behauptet Randecker in seinem Artikel zum Kriegstagebuch, dass Haag überhaupt kein Publikationsverbot des NS-Regimes erteilt worden sei. Dieser Aussage widersprechen die meisten Artikel zu Anna Haag oder ihrem Tagebuch. Andere Berichte zu Anna Haag geben wiederum zu bedenken, dass sie zwar kein Publikationsverbot besessen habe, aber kaum die Möglichkeit hatte, etwas unzensiert zu veröffentlichen. Dies scheint am wahrscheinlichsten zu sein. So erhielt Anna Haag zwar ein Angebot der UFA zur Verfilmung eines ihrer Bücher, doch sie lehnte ab. Haag wollte ihre Werke nicht nach den ideologischen Vorstellung des Regimes überarbeiten.[11] Die Herausgeberin von „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“, Jennifer Holleis, bezog zu den Aussagen von Günter Randecker folgende Stellung: „Kritik an einem nicht wissenschaftlichen Werk muss angemessen sein. Im Zuge der Verdichtung hat Anna Haag Inhaltliches gestrafft, allerdings keine Veränderungen vorgenommen, die einen moralischen Wandel oder ein verbessertes Selbstbild zur Folge gehabt hätten.“[12] Randeckers Kritik bleibt deshalb eine Einzelstimme, die meisten Rezensionen zu Anna Haags Tagebuch fielen äußerst positiv aus. Der Deutschlandfunk bezeichnete die Aufzeichnungen als „atemberaubendes Zeitzeugnis“[13] und der SWR als „sensationelle literarische Neuentdeckung“[14]. Beide setzten Haags Werk mit den Tagebüchern von Victor Klemperer gleich.

 

Anna Haag war nicht nur eine engagierte Politikerin, der Deutschland mit dem Kriegsdienstverweigerungsgesetz eines seiner wichtigsten Gesetze zu verdanken hat, sondern auch eine faszinierende Schriftstellerin, deren Werke es sich zu lesen lohnt. „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“ ist kein wissenschaftlich fundierter, historischer Bericht – versucht aber auch nicht einer zu sein. Es ist dennoch nicht „nur“ ein Tagebuch. Es ist Anna Haags Versuch der Beschreibung und Analyse des damals Geschehenen, welches sie teilweise auch durch das Schreiben verarbeitet. Sie fügt ihrem Bericht relevanten Quellen hinzu und kommentiert diese, wodurch ihr Tagebuch eine gewisse historische Relevanz erhält. Ob sie ihre Aufzeichnungen im Nachhinein nun verändert hat, um sie lesenswerter zu machen oder um doch eine Publikation zu erreichen, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Wenn Anna Haag den Inhalt nicht grundlegend verändert hat, handelt es sich um ein Zeitdokument, falls sie dies doch getan hat, ist das Tagebuch eher als Autobiographie zu betrachten. Der Quellenwert des Buches ist in beiden Fällen unbestreitbar.

 

 

Ein Beitrag von Anna-Barbara Schober, überarbeitet von Maren Brugger


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