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Historisch-politische Bildung an Gedenkstätten


Andreas Schulz studierte Geschichte und Latein. Von 2016 bis 2019 war er u. a. wissenschaftlich pädagogischer Mitarbeiter im Projekt Lernort Kislau. Seit 2016 ist er Fachreferent für Gedenkstättenarbeit an der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB). Im Interview spricht er über seinen Arbeitsalltag und die Herausforderungen der historisch‑politischen Bildungsarbeit an den Gedenkstätten in Baden-Württemberg.


Bild: Privatbestand Andreas Schulz.
Bild: Privatbestand Andreas Schulz.

Andreas, was fasziniert Dich an Geschichte?

An Geschichte hat mich schon immer interessiert, dass wir durch die Beschäftigung mit ihr lernen, wo wir eigentlich herkommen. Der Philosoph Odo Marquard hat einmal in einem Essay geschrieben: „Zukunft braucht Herkunft“. Denn, so Marquard, wir Menschen leben nur kurze Zeit: Wir kommen spät auf die Welt und gehen wieder früh aus ihr hinaus. Die Beschäftigung mit unserer Herkunft bietet uns Orientierung für das eigene Leben, sodass wir nicht immer wieder bei Null starten müssen. Marquard vergleicht die Besinnung auf die Vergangenheit mit dem Teddybären von Kindern, den sie stets als Stabilitätsversicherung mit sich tragen in einer Welt, die jeden Tag wieder fremd und neu erscheint. So haben wir uns alle unseren „Teddybären“ aus der Vergangenheit gewählt, den wir immer bei uns haben: Kultur, Traditionen, Werte usw. Für mich persönlich ist Geschichte im Laufe der Zeit zu einer Beschäftigung mit Freiheit und mit der Möglichkeit, Handlungsoptionen zu besitzen und zu nutzen, geworden. Darüber hinaus war für mich die Beschäftigung mit dem Stalinismus ganz prägend: Ich wollte verstehen, wie Herrschaft funktioniert und warum Menschen so handeln, wie sie handeln. Während der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus hingegen habe ich gelernt, dass Menschen oft die Option haben, sich – je nachdem, in welchem Umfeld sie sich bewegen – für das eine oder auch für das andere entscheiden können.

 

Werte, Tradition und Handlungsspielräume sind gute Stichworte! Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) unterstützt mit ihren Angeboten nun schon seit 50 Jahren Menschen darin, politisch urteils- und demokratisch handlungsfähig zu werden. Du bist Referent im Fachbereich Gedenkstättenarbeit an der LpB. Was genau macht der Fachbereich?

Der Fachbereich Gedenkstättenarbeit arbeitet eng mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen (LAGG) zusammen. Das ist ein Zusammenschluss von Gedenkstätten, die sich hier in Baden-Württemberg mit dem Nationalsozialismus und dem jüdischen Leben beschäftigen. Der Fachbereich unterstützt die Gedenkstätten sowohl inhaltlich als auch finanziell. Wir bieten Vorträge und Fortbildungen zu Themen rund um den Nationalsozialismus und zum jüdischen Leben an und beraten die Gedenkstätten zum Beispiel bei der Ausstellungsgestaltung oder der Digitalisierung. Aber wir sind auch gemeinsam mit der LAGG dafür zuständig, die Fördermittel, die die Gedenkstätten vom Land erhalten, auszuschütten. Dafür gibt es ein Gremium, das über die Anträge der Gedenkstätten berät und sie finanziell unterstützt. Darüber hinaus haben wir eine Sparte, in der wir Publikationen zu verschiedenen Themen betreuen und herausgeben.

 

Das ist ein breites Portfolio an Aufgaben. Wie sieht Dein Arbeitsalltag in der Regel aus? Jeden Tag anders! Es gibt viele Verwaltungsaufgaben, da wir am Landtag ,dranhängen‘. Deshalb ist es wichtig, dass wir transparent und nachvollziehbar arbeiten – das schließt mit ein, dass es viel Zeit kostet, Dinge bürokratisch richtig abzuwickeln. Außerdem stehen wir mit über achtzig Gedenkstätten in Baden-Württemberg in Kontakt, redigieren Texte für Publikationen und manchmal – oft auch nach Feierabend – erstelle ich eigene Vorträge oder plane Veranstaltungen. Es ist also ein sehr abwechslungsreicher Arbeitsalltag, bei dem ich oft morgens nicht weiß, was über den Tag hinweg so anfallen wird.

 

Welche Kompetenzen, die Du in Deinem Studium ausbilden konntest, helfen Dir in Deinem Arbeitsalltag weiter?

Das betrifft besonders eine Meta-Ebene: Man braucht ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Selbstorganisation, um einen Überblick über verschiedene Prozesse behalten zu können und unterschiedlichste Dinge nebeneinander laufen zu lassen. Ich habe noch auf Staatsexamen studiert und konnte meine Themen und Fächer frei wählen – ich musste mir selbst überlegen, wie ich Dinge sinnvoll miteinander verbinden kann. Ob es im modularisierten Bachelor-Master-System noch möglich ist, diese Fähigkeit zur Selbstorganisation zu schulen, oder ob dies nicht durch eine strikte Führung durch die Uni-Verwaltung abgenommen wird, frage ich mich oft. Wenn es um Vorträge und Publikationen geht, hilft mir mein Latein- und Geschichtsstudium zudem, weil ich als Historiker gelernt habe, gründlich zu recherchieren, mit Quellen zu arbeiten und genau darauf zu achten, wie ich Sachverhalte so formuliere, dass sie historisch korrekt sind. Aber ein „richtiger“ Historiker bin ich eigentlich erst nach dem Studium im Arbeitsalltag geworden. Da musste ich das erste Mal die Dinge, die ich im Studium gelernt habe, praktisch anwenden. Also, da bin ich nicht in Archive gegangen und habe auf das Fleißsternchen für die Hausarbeit gehofft, sondern konnte mich ohne Zeit- und Notendruck mit den Dingen ausführlich beschäftigen, die ich für den Arbeitsalltag gebraucht habe.

 

Was sind deine persönlichen Highlights im Berufsalltag?

Am liebsten stehe ich in Kontakt mit den Gedenkstätten und begleite ihre Arbeit. Am meisten Spaß macht mir die Beschäftigung mit Ausstellungen, wobei das die meisten Gedenkstätten selbst schon hervorragend machen. Außerdem halte ich gerne Vorträge, vor allem vor einem Publikum, das nicht gerade zu Experten auf dem Themengebiet zählt. So kommt man dann mit der Gesamtgesellschaft in Kontakt, wie man so schön sagt, und erfährt, was die Menschen denken. Was beschäftigt sie? Es geht aber auch um die Frage, wie wir das Interesse an Themen der Erinnerungskultur für eine breite Mehrheit der Menschen aufrechterhalten können – welche Relevanz können wir für die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus finden, dass diese Zeit nicht in Vergessenheit gerät?

 

Das ist auch eine große Frage, die sich den Aktiven an den Gedenkstätten im Land stellt. Was macht Geschichtsvermittlung an Gedenkstätten aus Deiner Sicht so besonders?

Aleida Assmann hat die Gedenkstätten einmal als ,begehbare Geschichtsbücher‘ bezeichnet. An dem Vergleich ist etwas dran: Während ich im Geschichtsunterricht mit dem gedruckten Material wie Schulbüchern arbeiten muss, habe ich am historischen Ort die Möglichkeit, Geschichte ,anfassen‘ zu können. Ich kann vor meiner eigenen Haustür feststellen, dass auch hier Geschichte stattgefunden hat. Was im Geschichtsbuch steht, ist häufig sowohl räumlich als auch zeitlich weit weg. Aber wenn ich in meinem Ort selbst Spuren jüdischen Lebens finde, Unternehmen, in denen Zwangsarbeiter*innen beschäftigt waren oder auch Überreste eines Konzentrationslagers, einer ehemaligen Gestapo-Zentrale usw., dann kann ich Geschichte hautnah erleben und bekomme einen emotionaleren Zugang zu einem Thema, weil ich sehe, das hat wirklich stattgefunden.

 

Als Referent bist Du im Fachbereich Gedenkstättenarbeit auch für die Jugend- und Vermittlungsarbeit zuständig. Du betreust in diesem Rahmen u.a. die Ausbildung zu Jugendguides. Was steckt hinter dem Konzept?

Grundgedanke der Jugendguide-Ausbildung ist der der Peer Education. Das bedeutet, dass Menschen, die aus einem ähnlichen Lebensumfeld stammen – das mag einerseits das Alter betreffen, da spielen aber auch Bildung und Herkunft eine Rolle – anderen Menschen im gleichen sozialen Umfeld ein Thema näherbringen. Man hofft, dass die Geschichtsvermittlung so besser gelingt als in einem klassischen Lehrer-Schüler-Verhältnis, weil diese Menschen dieselbe Sprache sprechen und sich ähnliche Gedanken machen. Die Jugendguide-Ausbildung wurde 2015/2016 vom Arbeitskreis Jugend- und Vermittlungsarbeit der LAGG auf den Weg gebracht. Als ich 2016 mit einem Werkvertrag an der LpB anfing, habe ich ihre Koordinierung übernommen. Bislang fand die Ausbildung drei Mal statt, mit rund 20 bis 25 Jugendlichen pro Ausbildungsjahrgang. Ziel ist es auch, dass diese jungen Menschen sich anschließend an den Gedenkstätten engagieren – vorwiegend bei Führungen, aber sie bringen sich an manchen Orten auch in die Vorstandsarbeit ein, betreuen kleinere Projekte, oder erstellen Filme für ihre Gedenkstätten. Weil sie aus ihrer Alterssparte auf das Thema der Erinnerungskultur blicken, können sie der Gedenkstättenarbeit neue Impulse liefern.

 

Immer wieder wird über verpflichtende Gedenkstättenbesuche für Schulklassen gesprochen. Oftmals scheint die Forderung mit der Hoffnung verknüpft zu sein, die Schüler*innen würden dabei nicht nur etwas über den historischen Ort lernen, sondern auch eine Art Demokratieerziehung erhalten. Was würdest Du darauf erwidern?

Ich halte wenig davon, wenn Lehrkräfte annehmen, ihre Schüler*innen seien nach dem Gedenkstättenbesuch ,geläuterte Antifaschisten‘, aber ich kann den Wunsch natürlich nachvollziehen. Ein Stück weit können Gedenkstätten sicherlich trotzdem einen Beitrag dazu leisten, indem sie jungen Menschen etwa aufzeigen, wo Handlungsspielräume lagen, oder was es mit Menschen macht, wenn sie über Jahre hinweg in Gewalträumen leben müssen. Sie erfahren vielleicht, wie es ist, wenn Gewalt einfach zum Leben dazugehört, und man nicht wie wir in Frieden aufwächst, oder auch was Propaganda mit uns macht. Wir sehen das momentan am Krieg in der Ukraine, dass viele Menschen im Westen jetzt überrascht davon sind, dass es für manche Autokraten zum Alltag gehört, Gewalt anzuwenden, um ihre Ziele durchzusetzen. Auch dafür kann die Beschäftigung mit Geschichte ganz heilsam sein: Wir sehen, dass Gewalt für Menschen über die Epochen hinweg immer eine Option war, und das in Zukunft auch bleiben wird. Aber eben auch, dass wir verschiedene Möglichkeiten haben, dieser Gewalt zu begegnen – durch eine Staatlichkeit, durch demokratische Strukturen, durch ein zivilgesellschaftliches Engagement, die ich dem entgegenstellen kann.

 

Die Arbeit an den Gedenkstätten bleibt also aktuell. Wie hat sich Geschichtsvermittlung dort in den letzten Jahren verändert und was sind die Herausforderungen, damit die Gedenkstättenarbeit zukunftsfähig sein kann?

Vorwiegend verändert hat sich, dass die letzten Zeitzeug*innen größtenteils nicht mehr in der Lage sind zu reisen oder auch bereits verstorben sind. Sie waren für viele Gedenkstätten oft die Schnittstelle, um einen emotionalen Zugang herzustellen. Insbesondere junge Menschen waren von der Begegnung mit ihnen immer sehr beeindruckt. Künftig werden sich die Gedenkstätten mehr auf den historischen Ort konzentrieren. Das ist schwieriger als die Zeitzeug*innen erzählen zu lassen. Deshalb müssen wir wieder mehr an Konzepten arbeiten, wie wir das ,tote Gestein‘ sprechen und erzählen lassen können, um – nicht vergleichbar, aber zumindest auch – einen emotionalen Zugang zu bieten, um sich dem Thema weiter auf einer vertieften, wissenschaftlichen Ebene zu widmen. Dazu kommt, dass viele Gedenkstätten in Baden-Württemberg ehrenamtlich arbeiten. Aber das Ehrenamt scheint in der heutigen Zeit, insbesondere in städtischen Regionen, immer schwieriger wahrzunehmen und nimmt beständig ab. Wir müssen schauen, wie Gedenkstätten arbeitsfähig bleiben, wenn immer weniger Menschen bereit sind, sich ohne finanzielle Gegenleistung – oft fast schon Vollzeit – zu engagieren. Die dritte Herausforderung ist sicher die Digitalisierung: Wie gehen wir mit dem digitalen Wandel um? Während der Pandemie haben wir gesehen, dass viele Gedenkstätten auf digitale Angebote umgeschwenkt sind und tolle Angebote entwickelt haben. Aber sowohl von den Besucher*innen als auch von den Mitarbeiter*innen an den Gedenkstätten bekommen wir oft die Rückmeldung, dass der persönliche Austausch am historischen Ort unerlässlich ist. Den kann man nur schlecht ins Digitale übertragen. Die meisten hoffen darauf, dass wir wieder zur persönlichen Begegnung zurückkehren.

 

Welchen Beitrag können hier die Geschichtswissenschaft und insbesondere junge, angehende Historiker*innen leisten?

Historiker haben gelernt, totes Material zum Sprechen zu bringen und aus unsortierten Quellen ein schlüssiges Bild zusammenzufügen. Solche Fähigkeiten helfen auch an Gedenkstätten enorm, anhand von teils spärlichen Überresten eine stringente Geschichte erzählen zu können, die die Besucher mitnimmt. Das ist ja überhaupt etwas, mit dem sich Historiker mehr beschäftigen sollten: mit dem Storytelling. Das erhält auch im deutschen Sprachraum immer mehr Bedeutung, dass man nicht nur große, faktenreiche Historikerschinken produziert, sondern auch in wissenschaftlichen Werken Geschichten erzählt – ohne natürlich in Wissenschaftsfiktion abzudriften.

 

Danke für den spannenden Einblick in Deinen Berufsalltag, Andreas! Zu guter Letzt: Hast Du noch Tipps für Geschichtsstudierende?

Lest Bücher! Sucht euch Themen, die ihr spannend findet und lest viel – auch Romane. Also ich meine nicht unbedingt historische. Gute Schriftsteller schaffen es, uns die Ambivalenzen des Lebens aufzuzeigen. Sie versetzen uns in Situationen, die wir selbst nicht erlebt haben und lassen nachempfinden, wie sich andere in dieser Lage fühlen. Das schafft, wenn ich mich darauf einlasse, Verständnis – für mich selbst aber auch für andere. Und was das Studium an sich betrifft: Verknüpft Wissen und versucht, euch ein eigenes Bild, einen Roten Faden, von Geschichte aufzubauen. Zum Beispiel: Was macht Gewalt mit Menschen und was machen Menschen mit Gewalt über die Jahrhunderte hinweg? Oder: Wann und wie haben sich Menschen für die Verwirklichung von Freiheit eingesetzt? Und seid neugierig und stellt Fragen. Nur so schafft ihr es, Wissen zu verknüpfen, dass aus dem bloßen Geschichtswissen, das ich mir punktuell ansammle, irgendwann ein Geschichtsbewusstsein erwächst.

 

Ein Interview von Linda-Maria Huber


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