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Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und dessen praktische Umsetzung in Tübingen


Bild: Sarah Schneider.
Bild: Sarah Schneider.

Am 1. Januar 1934 trat ein Gesetz in Kraft, dem in den elf Jahren, in dem es angewendet wurde, circa 400.000 Menschen im deutschen Reich zum Opfer fielen. Durch das nationalsozialistische Gesetz sollten als „erbkrank“ erachtete Individuen an der Fortpflanzung gehindert und somit langfristig das Vorkommen von Erbleiden minimiert werden. Durch diese Maßnahme sollten allerdings nicht die Betroffenen selbst, sondern die „Volksgesundheit“ profitieren. Daher wurden die Eingriffe in die Rechte der Individuen mit dem erwarteten Nutzen für das Allgemeinwohl legitimiert. Die angeblich „Erbkranken“ wurden zwangsweise operiert, ein Eingriff, der keinerlei medizinischen Nutzen hatte, unnötig und mitunter für die Gesundheit der Betroffenen schädlich war. Zusätzlich zu den möglichen medizinischen Komplikationen während und nach der Sterilisation wurden die Betroffenen als „Träger minderwertiger Anlagen“ gesellschaftlich stigmatisiert.[1]

 

Direkt nach der Machtübernahme trieb die NS-Regierung die Verabschiedung eines Sterilisationsgesetzes mit Hochdruck voran – am 14. Juli 1933 wurde der Gesetzesentwurf im Reichskabinett beraten und als „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (kurz: GzVeN) verabschiedet. Das GzVeN zielte auf neun „Erbkrankheiten“ ab, bei denen das Gesetz Anwendung finden sollte. Diese waren: „angeborener Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „zirkuläres Irresein“, „erbliche Fallsucht“, „erblicher Veitstanz“, „erbliche Blindheit“, „erbliche Taubheit“, „schwere erbliche körperliche Missbildung“ - außerdem konnte noch aufgrund „schweren Alkoholismus“ sterilisiert werden. Neben diesen Erbkrankheiten regelte das Gesetz auch das Beschlussverfahren, durch welches die Sterilisation gerichtlich angeordnet wurde.

 

In die Umsetzung des GzVeN waren verschiedene medizinische Berufsgruppen eingebunden: Niedergelassene Ärzte hatten die Aufgabe, „Erbkranke“ dem Gesundheitsamt zu melden, Amtsärzte und Klinikpsychiater waren für die Einleitung der gerichtlichen Sterilisationsverfahren und die Verfassung medizinischer Gutachten zuständig. Ärzte, die in Krankenhäusern mit chirurgischen oder gynäkologischen Abteilungen angestellt waren, wurden mit der Sterilisation beauftragt.

 

Die Universitäts-Nervenklinik Tübingen. Bild: Sarah Schneider.
Die Universitäts-Nervenklinik Tübingen. Bild: Sarah Schneider.

Auch die Mediziner der Tübinger Psychiatrie beziehungsweise der Universitäts-Nervenklinik Tübingen wirkten an der Umsetzung des GzVeN mit. Deren Verstrickung in die Medizinverbrechen wurde durch verschiedene Arbeiten aufgearbeitet.

 

Eine dieser Arbeiten stellt die Dissertation von Imke Kaasch von 2006 dar, die sich in ihrem Werk mit der Begutachtung von Frauen an der Universitäts-Nervenklinik Tübingen auseinandersetzt, wobei sie ihren Schwerpunkt auf das Jahr 1936 setzt. Sie führt aus, dass die Universitätsnervenklinik Tübingen ein Buch mit dem Titel „Sterilisierungen“ führte, in welchem alle Patientinnen aufgelistet waren, die sich in der Klinik befanden und verdächtigt wurden, an einer unter das GzVeN fallende Krankheit zu leiden. In diesem – sich weiterhin in der Klinik befindlichen – Buch, das vom 1.2.1934 bis zum 6.1.1939 geführt wurde, finden sich insgesamt 2970 Fälle.

 

Bei den eingetragenen Personen handelt es sich ausschließlich um Frauen, ein entsprechendes Buch für Männer ist nicht überliefert. Der erste im Buch verzeichnete Antrag auf Sterilisation wurde am 2. Februar 1934 gestellt, nur wenige Wochen nach dem Inkrafttreten des GzVeN. Jedoch wurde nicht für alle gelisteten Frauen ein Antrag auf Sterilisation gestellt, vielmehr scheint es sich hierbei um eine Sammlung aller Menschen zu handeln, die unter das GzVeN fallen. Diese „erbbiologische Bestandsaufnahme“ aller potentiell Betroffenen war für eine erfolgreiche Durchführung des Gesetzes notwendig.

 

Aus den Verwaltungsakten der Frauenklinik lässt sich entnehmen, dass von 1934 bis 1937 insgesamt 608 Frauen an der Klinik sterilisiert wurden. Für die Jahre danach lassen sich keine Zahlen finden, es ist jedoch von einer Abnahme der Fälle zu rechnen, da die Ausführung des Gesetzes während des Krieges eingeschränkt wurde. Mit 203 Sterilisationen stellt das Jahr 1936 quantitativ den Höhepunkt der Sterilisationen dar.

 

Eine weitere ärztliche Mitwirkung an der Umsetzung des GzVeN war die Verfassung von Gutachten für die Sterilisationsverfahren. Mithilfe der Gutachten wurde ermittelt, ob eine Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes vorlag. In den Akten der Nervenklinik finden sich für das Jahr 1936 83 Gutachten, durch diese sich ein Einblick in die Lebensumstände der betroffenen Frauen nehmen lässt. Das Alter der begutachteten Frauen lag zum größten Teil zwischen 20 und 40 Jahren, was der Zielgruppe des Gesetzes entspricht, das auf die Sterilisation fortpflanzungsfähiger „Erbkranker“ abzielte. Es lassen sich jedoch einzelne Abweichungen feststellen, unter den Gutachten finden sich auch vier Mädchen unter 15 Jahren, die jüngste war 12 Jahre alt. Auffällig ist außerdem, dass von den 83 begutachtenden Frauen 60 ledig waren, was sich einerseits aus dem Alter der Betroffenen erklären lässt, aber auch dadurch, dass für eine Heiratserlaubnis ein Gesundheitszeugnis vorgelegt werden musste.

 

Betreffend der Diagnosen fällten 46 Gutachter das Urteil, dass die Frauen an einer Krankheit litten, die unter das Gesetz fielen. In fünf Fällen wurde die letztendliche Entscheidung über das Vorliegen der entsprechenden Krankheiten dem Gericht überlassen beziehungsweise Nachuntersuchungen empfohlen. Somit wurde in 46 der 83 Fälle eine Krankheit diagnostiziert, die dem Gesetz nach zu einer Sterilisation führen musste, dies entspricht knapp 60% der Fälle.  Die häufigste Diagnose stellte hierbei die „erbliche Fallsucht“ mit 19 Personen dar, gefolgt von Schizophrenie mit 15 Betroffenen. An „erblichen Schwachsinn“ litten 8 Frauen.

 

Diese Verteilung der Diagnosen stellt eine Auffälligkeit dar, da normalerweise die angeblich „Schwachsinnigen“ die größte Gruppe der Betroffenen darstellen. Eine weitere Auffälligkeit für Tübingen ist, dass im Jahr 1936 die meisten Sterilisationen durchgeführt werden, in vielen anderen Städten wurden 1934 die meisten Sterilisationen durchgeführt.

Die Nervenklinik Tübingen war auf verschiedenen Ebenen in die Umsetzung der Zwangssterilisationen eingebunden: Zum einen durch das geführte Buch der „Sterilisierungen“, in welchem die Patientinnen aufgeführt wurden, welche potentiell unter das GzVeN fallen, und zum anderen durch die Durchführungen der Sterilisationen selbst.

 

Ein Beitrag von Sarah Schneider


 Weiterführende Literatur:

Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986.

Kaasch, Imke Marion:  Zur Alltagsgeschichte des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Am Beispiel der Begutachtung von Frauen an der Universitäts-Nervenklinik Tübingen im Jahr 1936, Tübingen 2006.

 

Fußnoten:

[1] Die „wissenschaftliche“ Grundlage für diese Maßnahme stellt die Eugenik dar – die im deutschen Reich meistens als „Rassenhygiene“ bezeichnet wurde. Unter der Eugenik versteht man die Wissenschaft, welche die angeborenen Eigenschaften des Individuums und eines Volkes verbessern sollte. Das Ziel der Eugenik war es daher, die Fortpflanzung der „Gesunden“ zu fördern, während gleichzeitig die Fortpflanzung der „Kranken“ verhindert werden sollte.


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