Kolonialgeschichte begegnet uns im Tübinger Stadtbild immer wieder – aber man muss genau hinschauen. Oder die Stelen des Stadtmuseums lesen, von denen letzten Herbst insgesamt zwölf in der ganzen Stadt aufgestellt wurden. Genauso wie es Informationsschilder vor wichtigen historischen Orten zur NS-Vergangenheit gibt und eine Zeit lang zur queeren Geschichte in Tübingen gab, wurde letzten Herbst über den Kolonialismus aufgeklärt. So eröffnete einer der drei angebotenen Stadtrundgänge neue Perspektiven – insbesondere auf den Stadtpark „Bota“: Im Alten Botanischen Garten die Ginkgo-Bäume in dem Bewusstsein zu betrachten, dass diese nur aufgrund kolonialer Expeditionen hier wachsen, führt zu einem neuen Verständnis der lokalen Kolonialgeschichte – und macht sie im wahrsten Sinne des Wortes greifbar.
Über die Kolonialvergangenheit der Universität ...
Die kostenlosen Stadtrundgänge des Tübinger Stadtmuseums, die im September und Oktober 2022 organisiert wurden, führten an jeweils fünf der zwölf Stelen entlang. Am vereinbarten Treffpunkt fanden sich circa 15 Menschen ein, – jung wie alt – um an diesem Bildungsangebot teilzuhaben. Innerhalb einer Stunde ließ die Führung die Häuser der Altstadt in einem neuen Licht erscheinen.
Die Station „Neue Aula“ gilt repräsentativ als Ort für viele Wissenschaften, die lange aufs Engste mit dem Kolonialismus verknüpft waren. Viele Erkenntnisse der Botanik, Anthropologie und Paläontologie zum Beispiel konnten nur durch Forschung in den Kolonien erlangt werden. Hier verwies unsere Stadtführerin Caroline Kunz auf das Forschungsprojekt der Wirtschaftsgeografie „Koloniales Erbe in Tübingen - eine Spurensuche", das konkrete Orte, Personen und Institutionen untersucht, die mit dem deutschen Kolonialismus verbunden sind: von der Tropenmedizin zu einzelnen Akteuren der Kolonialpolitik. Ein Beispiel dafür ist Eduard Haber (1866–1947), ehemaliger Gouverneur der Kolonie Deutsch-Neuguinea und Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen für Kolonialwesen und Rohstoffversorgung, dem bis heute noch ein Straßenname in Lustnau gewidmet ist.
... und des Stadtmuseums
Das Stadtmuseum selbst kehrt im Rahmen des Stadtrundgangs auch vor der eigenen Haustür. Eine Stele direkt vor dem Kornhaus erzählte von kolonialen Besitztümern in der Sammlung. Das Museum beherbergt Objekte wie ein Horn aus Elfenbein, einen Olifanten, der 1848 nach Tübingen gelangte, und eine Tabakdose mit Sammelbildern der „Deutschen Kolonien“ von 1936. Die Provenienzforschung, die nach der Herkunft der Gegenstände fragt, gestaltet sich aufgrund fehlender Dokumentation oft schwierig. Trotzdem versucht das Stadtmuseum herauszufinden, ob und inwiefern die Objekte in einem Unrechtskontext nach Tübingen kamen. Dabei kann es sich um Raub handeln, aber auch um einen Kauf zu ungleichen, unterdrückerischen Bedingungen.
Weiter ging es Richtung Haagtor. Dort konnte uns unser Guide, Caroline Kunz, interessante Geschichten über die erste deutsche Brauerei in China erzählen – von ursprünglich am Haagtor lebenden Schwaben als koloniales Propagandaprojekt aufgebaut. Die Informationen der Stelen ergänzte sie immer wieder mit neuen Forschungsergebnissen. Zu neuem Wissen kommt es unter anderem dadurch, dass Tübinger*innen alte Gegenstände aus dem Familienbesitz und Geschichten von Eltern und Großeltern teilen. Unser Guide nennt die Stadtrundgänge deshalb auch "Appetizer" - um den Einwohner*innen Tübingens und der Umgebung Lust zu machen, in der eigenen Vergangenheit zu forschen, Wissen zu teilen und so zur Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit beizutragen. Zu festen Terminen waren alle eingeladen, koloniale Objekte, Dokumente oder Erinnerungen ihrer Verwandten ins Stadtmuseum zu bringen. Denn im Laufe des Jahres 2023 soll dort eine neue Dauerausstellung zu diesem Thema entstehen.
Koloniale Kontinuitäten bei Kaffee und Tee
Koloniale Kontinuitäten prägen noch heute die Gegenwart. Als die Zuhörenden aufmerksam auf dem Holzmarkt standen und den Erklärungen über die ersten Kolonialläden lauschten, ging es nicht nur um Teeplantagen und Schokoladenherstellung in der Neuzeit, sondern auch um die aktuelle ökonomische Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden. Mit der Industrialisierung und der Phase des Hochimperialismus boomten die Kolonialwarenläden in Europa um 1900. Produkte aus den Kolonien waren sehr beliebt und wer sie verkaufen konnte, galt als modern. Während sich jeder Lebensmittel-Laden, der auch Tee verkaufte, aus Prestigegründen Kolonialwarenladen nannte, verkaufte das damalige Geschäft gegenüber von der Stiftskirche, in dem sich heute ein H&M befindet, tatsächlich nur Produkte aus den europäischen Kolonien. Während die Teilnehmer*innen der Stadtführung zur nächsten Station liefen, unterhielten sie sich angeregt über verschiedene Fairtrade-Marken: Bei welchen verdienen die Arbeitnehmer*innen in den Anfängen der Produktionsketten am meisten? Welche Verpackungen weisen noch heute koloniale Motive auf?
Die „exotische“ Vergangenheit des Stadtparks „Bota“
Weiter ging es zum „Bota“, dem alten botanischen Garten. Der Stadtpark wurde ursprünglich als Forschungsort für die Botanik angelegt. Schon seit dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) beschäftigte sich die Botanik mit für Europäer*innen „exotischen“ Pflanzen: Forschungsexpeditionen brachten Zier- und Nutzpflanzen aus Nord- und Südamerika, Afrika, Asien und Ozeanien nach Europa. Dort wurden diese zur Untersuchung in Botanischen Gärten gezüchtet. So auch in Tübingen: In dem 1805 von der Universität angelegten Garten sind bis heute noch viele nicht heimische Baumsorten zu bestaunen. Dazu gehören zum Beispiel der Trompetenbaum, die Sumpfzypresse und der Tulpenbaum – alle drei sind ursprünglich in Nordamerika heimisch.
Auch mehrere Ginkgo-Bäume lassen sich im Alten Botanischen Garten finden. Sie sind in Ost-Asien heimisch, wo sie eine jahrtausendealte kulturelle und symbolische Bedeutung innehaben. Der Arzt und Forschungsreisende Engelbert Kämpfer (1651-1716) führte sie 1712 mit seinen Aufzeichnungen in die europäische Gelehrtenwelt ein. Bald darauf konnten sie auch in Tübingen bestaunt werden. Dort, wo sich heute die kleine Platanenallee befindet, blieb unsere Stadtführerin vor einer weiteren Stele stehen – denn dort befand sich früher das Palmenhaus. Als dieses 1886 im Tübinger Botanischen Garten errichtet wurde, handelte es sich dabei jedoch nicht nur um einen Ort biologischer Erkenntnisse, sondern auch um einen prestigereichen „kolonialen Ort“. Je wundersamer und fremdartiger – kurz, je „exotischer“ – die Pflanzen aussahen, desto mehr konnte man sich mit der Erschließung der Welt brüsten. Die Palmenwedel und Ginkgo-Blätter standen im europäischen Geist der Neuzeit nicht nur für die Erforschung, sondern auch für die Inbesitznahme „neu entdeckter“ Gebiete, mit der sich die Universitätsstadt Tübingen schmücken wollte.
Nach der Verlegung des Botanischen Gartens auf die Morgenstelle im Jahr 1970 wurde der Glas-Eisen-Bau abgerissen – wenn auch unter Protest der Stadtbevölkerung. Selbst bei der Stadtführung konnten sich einige Teilnehmer*innen noch an die damalige Kontroverse erinnern. Nachdem die Stadtführerin uns von dem Import von Bambus und Affenbrotbäumen aus Tropenregionen berichtete, griff sie wieder ein aktuelles Thema mit (post-)kolonialen Bezügen auf. Laut dem Verein adis, dem offiziellen Träger der Antidiskriminierungsarbeit in der Region Tübingen / Reutlingen, finde auch in Tübingen sogenanntes „Racial Profiling“ statt. Dass gerade im Bota überdurchschnittlich viele migrantisch gelesene Menschen polizeilich kontrolliert werden sollen, führte zu einer neuen Debatte innerhalb der Gruppe.
Wo die letzten Monate die Stele über die koloniale Vergangenheit des Alten Botanischen Gartens aufklärte, wird bald vielleicht ein neues „Palmenhaus“ als Café und Veranstaltungsort eröffnet – seit 2009 setzt sich dafür ein Förderverein ein. Falls dies tatsächlich geschieht, könnte das Bistro auch als neuer kritischer Erinnerungsort für die koloniale Vergangenheit Tübingens dienen.
Stadtrundgänge als ein Element gemeinsamer und zukunftsweisender Aufarbeitung
Mit den 12 Stelen und den dazugehörigen Stadtführungen wurde ein neuer Schritt in Richtung Aufarbeitung der lokalen Kolonialgeschichte getan. Anregend ist besonders die Vielzahl an Aspekten, die bei der Führung aufgegriffen werden. So führte uns die Museumsangestellte von „Funfacts“ zu komplexen historischen Zusammenhängen, von neuem lokalem Wissen zu aktuellen gesellschaftlichen Themen. Das Format bietet einen Ort der Wissensvermittlung, des gemeinsamen Austauschs und auch der Wissensgenerierung: als ein besonders partizipatives Element gemeinschaftlicher Aufarbeitung, bei dem Zivilgesellschaft und Forschende zusammenarbeiten. Zum Ende des Jahres 2022 wurden die Stelen wieder abgebaut. Doch das Thema Kolonialismus wird die Tübinger Gesellschaft noch länger beschäftigen.
Ein Beitrag von Marlene Krekeler.
Quellen:
Bäume im Alten Botanischen Garten: http://www.tuepedia.de/wiki/B%C3%A4ume_im_Alten_Botanischen_Garten (02.02.23)
Eduard Haber: https://www.historischer-augenblick.de/haber2/ (02.02.2023)
Erforschung des Ginkgo-Baumes in Westeuropa: http://www.ginkgomuseum.de/content/ginkgobiloba/ginkgo-wiederentdeckt/ (02.02.2023)
Forschungsprojekt „Kolonialismus in Tübingen“ der Wirtschaftsgeografie:
https://uni-tuebingen.de/en/fakultaeten/mathematisch-naturwissenschaftliche-fakultaet/fachbereiche/geowissenschaften/arbeitsgruppen/geographie/forschungsbereich/wirtschaftsgeographie/arbeitsgruppe/kolonialismus-in-tuebingen/
(02.02.2023)
Geschichte des Ginkgo-Baumes: http://www.ginkgomuseum.de/content/ginkgobiloba/ (02.02.2023)
Geschichte des Ginkgo-Baumes: http://userpage.fu-berlin.de/leinfelder/palaeo_de/edu/lebfoss/gingko/index.html (02.02.23)
Racial Profiling: https://adis-ev.de/publikationen/mediathek/mediathek-racial-profiling-was-tun-video (02.02.2023)
http://www.tuepedia.de/index.php/Alter_Botanischer_Garten
Bildquellen
http://www.tuepedia.de/index.php/Alter_Botanischer_Garten
Weiterführende Literatur
Mägdefrau, Karl: Führer durch den Botanischen Garten der Universität Tübingen, Tübingen 1971.
Rauch, Udo/Hägele, Ulrich/Bantel-Zacharias, Antje: ... und grüßen Sie mir die Welt!: Tübingen - eine Universitätsstadt auf alten Postkarten, Tübingen 2007.
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