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„Berufen, um zu helfen?“ – Die Tropenmedizin in Tübingen


Illustration aus der traditionellen chinesischen Medizin, die später auch von Gottlieb Olpp reproduziert wurde. Bild: Wellcome Images, CC0.*
Illustration aus der traditionellen chinesischen Medizin, die später auch von Gottlieb Olpp reproduziert wurde. Bild: Wellcome Images, CC0.*

„Berufen, um zu helfen“ – unter diesem Titel steht eine Publikation aus dem Jahr 2016, die sowohl das 110-jährige Bestehen des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission (Difäm) als auch das 100-jährige Bestehen der Tropenklinik in Tübingen, dessen Klinikträger das Difäm ist, zelebriert. Beide Institutionen bestehen noch heute. Sie haben über die Jahre vor allem ideologische Wandlungsprozesse durchlaufen, wobei ihre Funktion als Träger der medizinischen Versorgung in wirtschaftlich armen Regionen (Difäm) und als Klinik für an sogenannten ‚Tropenkrankheiten‘ erkrankte Menschen in Tübingen selbst (Tropenklinik) weitgehend gleich geblieben sind. Laut eigener Auskunft „wurde [nach der Unabhängigkeit vieler Länder, Anm. HK] klar, dass ein westliches Medizinverständnis den Menschen vor Ort nicht gerecht wird und nicht einfach exportiert werden kann“. (1) Bevor dies aber klar wurde, musste die Tropenmedizin einen langen Weg durchlaufen, der mit der Dekolonialisierung Hand in Hand geht und bis heute nicht abgeschlossen ist.

 

Der Beginn der Tropenmedizin kann nicht klar festgemacht werden. Seit der Ankunft europäischer Siedler, Händler und Soldaten in verschiedenen ‚tropischen‘ Ländern wuchs auch die Angst vor bis dato in Europa unbekannten sogenannten Tropenkrankheiten. So entwickelte sich die Tropenmedizin über Jahrhunderte hinweg, bis es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer „Institutionalisierung“ (2) kam, im Zuge derer Gründungen wie die des Difäm und der zehn Jahre jüngeren Tübinger Tropenklinik stattfanden – Institutionen, die den bei ihnen arbeitenden Missionarinnen und Missionaren eine bessere Ausbildung in der Tropenmedizin ermöglichten.

 

Ein Missionarsarzt war Gottlieb Olpp, der zweite Direktor des Tübinger Difäm von 1909 bis 1937. 1872 wurde Olpp in eine Missionarsfamilie geboren. Von 1898 bis 1907 war er Missionarsarzt in Dongguan, China, wo er nicht nur als Tropenmediziner agierte, sondern auch Schriften der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) ins Deutsche übersetzte. Somit trieb er nicht nur die Verbreitung der europäischen Tropenmedizin in China voran, sondern auch die Verbreitung der TCM in Deutschland. Olpps Einstellung gegenüber der TCM war nicht etwa revolutionär, dennoch betrachtete er sie mit einer weniger herablassenden Haltung als seine Kollegen, da er sie als wichtiges kulturelles Phänomen anerkannte. Gottlieb Olpp gilt daher als einer der Vorreiter der deutschen Sinologie – einem Fach, das man auch heute in Tübingen studieren kann. (3)

 

Genauso wenig wie alle anderen Missionarinnen und Missionare  war auch Olpp nicht ohne Grund in China. Tatsächlich waren es hauptsächlich christliche Missionierende, die freiwillig in weit entfernten Ländern medizinische Hilfe leisteten. In ihrer Religion fühlten sie sich berufen – „berufen, um zu helfen“. Nicht zu Unrecht galten sie als Träger der medizinischen Versorgung in den europäischen Kolonien und Gebieten, in denen missioniert wurde. Dass es zuvor bereits Medizin gab und die Missionsmedizin die Versorgung nach westlichem Medizinverständnis garantierte, war damals vermutlich weniger anerkennt und als wichtig erachtet, denn die Missionierenden wurden nicht nur geschickt, um zu helfen, sondern auch, um zu bekehren.

Tropenkurse für Fachpersonal am Difäm, ca. 1916. Bild: Wikimedia.**
Tropenkurse für Fachpersonal am Difäm, ca. 1916. Bild: Wikimedia.**

Stellt man den Kolonialismus von Olpps Zeit in China dem Missionarswesen von der damaligen Zeit - dessen Gedankengut ist in Zügen noch heute erhalten geblieben - gegenüber, so fällt ein Aspekt direkt ins Auge: die Zivilisierungsmission. Einer ihrer Kernaspekte war die Ausführung des ideologischen Konzepts der „kulturellen ‚Hebung‘“ (4), im Zuge derer ‚verderbliche‘ Praktiken durch Bildung ersetzt werden sollten. Wenn die tief in Rassismus und Intoleranz verwurzelte Frage danach beiseitegelassen wird, was ‚verderbliche Praktiken‘ eigentlich sind, bleibt eins trotzdem nach wie vor: die Bildung, von der gesprochen wird, sollte nicht nur weltlich sein, sondern auch eine Bekehrung zum Christentum umfassen. (5) Eine solche Ideologie macht automatisch sämtliche nicht-christlichen Religionen zu ebendiesen ‚verderblichen Praktiken‘, wodurch der inhärente Rassismus einer Ideologie, die eine sogenannte ‚Zivilisierungsmission‘ involviert, offen dargelegt wird.

 

Das soll nicht heißen, dass sämtliche Missionare ausschließlich für die Eliminierung anderer Religionen und spiritueller Praktiken in die Tropenmedizin gingen. Dennoch ist ihr Überlegenheitsdenken gegenüber fremden Kulturen im Allgemeinen und in traditionellen medizinischen Praktiken im Besonderen eine klare Form von Rassismus, was man auch in Gottlieb Olpps Umgang mit der TCM erkennt – auch wenn er eine vergleichsweise neutrale bis positive Einstellung ihr gegenüber hatte, betrachtete er sie ‚nur‘ als kulturelles Phänomen und erkannte sie nicht als ein System medizinischer Praktiken an. (6)

Es soll nicht bestritten werden, dass viele Missionare sicherlich primär aus dem Willen zu helfen in fremde Länder reisten. Obwohl eine scharfe Trennung nicht möglich ist und die Grenzen verschwommen sind, sollte man sich jederzeit ins Gedächtnis rufen, dass ein Mensch normalerweise nicht nur aus einem einzigen Motiv heraus handelt. Unter den Motiven eines Missionars gibt es unter Umständen verschiedene Kategorien: Der Wille zu helfen mag in einem Kontext des persönlichen Glaubens von anderen Gründen inspiriert sein als der Wille zu missionieren, der ohne den Hintergrund einer Kirche vermutlich nicht existieren würde. (7)

 

Die Anfänge des Tübinger Difäm befinden sich als „von medizinischem Missionsdenken [getrieben]“ (8) in einem verschwommenen Bereich zwischen individueller Hilfsbereitschaft und institutionellem Nutzen. Seine Ursprünge liegen in einer Zeit, in der Kolonialismus und Missionarswesen quasi untrennbar verflochten waren. Es ist unmöglich, die Geschichte des Difäm, seine Ursprünge und Entwicklung ohne den Spiegel der Kolonialzeit zu sehen – auch die Missionare des Difäm betrieben eine Zivilisierungsmission, auch sie wollten bekehren.

 

Die Rolle Tübingens und seiner Bürger auf sowohl lokaler als auch globaler Ebene des Kolonialismus ist noch immer kein Thema, mit dem sich viel beschäftigt wird. Projekte von Universitätsangehörigen (9) und Ausstellungen des Stadtmuseums sind wichtige Schritte in Richtung Erforschung der kolonialen Lokalgeschichte. Gerade aber in der Tropenmedizin, die noch heute als Disziplin existiert, lohnt es sich, Motivationen und Handlungsweisen der Akteurinnen und Akteure der Kolonialzeit zu untersuchen und zu hinterfragen. Die Disziplin hat sich zwar entscheidend gewandelt, doch darf keine Vergangenheit vollständig von der Gegenwart getrennt werden.

 

In einer postkolonialen Welt, die kulturelle Unterschiede anerkennt, statt sie zu entfremden oder nach Assimilation zu streben, ist die Zivilisierungsmission in den Hintergrund gerückt. Wenn sie auch in den Köpfen mancher nicht gänzlich verschwunden sein mag, und wenn es auch noch immer Missionen geben mag, die das Dasein keiner anderen Religion als des Christentums akzeptieren, haben sich doch sogar Institutionen wie die Tropenklinik in Tübingen gewandelt, denen Bekehrung als Zivilisierung inhärent war – ein getreues Abbild einer Welt im Wandel.

 

Ein Beitrag von Hannah Kuhr


Fußnoten:

[1] Webseite des Difäm, Reiter ‚Geschichte‘, URL: https://difaem.de/ueber-uns/geschichte-des-difaem.html (20.01.2023).

[2] Vgl. Bhattacharya, N.: Contagion and Enclaves: Tropical Medicine in Colonial India. Liverpool 2012, S. 2.

[3] Vgl. Yuan, W.: Spread of Traditional Chinese Medicine to the West and the Development of Sinology: A Case Study Based on the Translation of Traditional Chinese Medicine Literature by German Doctor Gottlieb Olpp, Chin Med Cult 2021; 4, S. 165–169, S.165.

[4] Conrad, S.: Deutsche Kolonialgeschichte. 4. Auflage, München 2019, S. 70.

[5] Vgl. Conrad, S.: Deutsche Kolonialgeschichte, S. 70.

[6] Dies soll nicht pauschalisieren, sondern vielmehr aufzeigen, dass man Dinge, die einer Institution nützen, ohne die Institution ebenso wenig tun würde, wie man ohne das Vorhandensein anderer Menschen anderen Menschen helfen könnte.

[7] Vgl. Yuan, W.: Spread of Traditional Chinese Medicine, S. 166.

[8] Projekt zur Aufarbeitung der lokalen kolonialen Vergangenheit auf der Webseite der Universität Tübingen, hier speziell zur Tropenmedizin, URL: https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/mathematisch-naturwissenschaftliche-fakultaet/fachbereiche/geowissenschaften/arbeitsgruppen/geographie/forschungsbereich/wirtschaftsgeographie/arbeitsgruppe/kolonialismus-in-tuebingen/tropenmedizin-in-tuebingen/#c1613717 (20.01.2023).

[9] Für ein Projekt Studierender siehe: Projekt zur Aufarbeitung der lokalen kolonialen Vergangenheit auf der Webseite der Universität Tübingen, URL: https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/mathematisch-naturwissenschaftliche-fakultaet/fachbereiche/geowissenschaften/arbeitsgruppen/geographie/forschungsbereich/wirtschaftsgeographie/arbeitsgruppe/kolonialismus-in-tuebingen/einfuehrung/ (20.01.2023).

 

Bildquellen:

*Abbildung 1: Illustration aus der TCM, die auch von Gottlieb Olpp reproduziert wurde. Quelle: Wellcome Images (https://wellcomecollection.org/works/qnw696wh (20.01.2023), Lizenz CC0.

**Abbildung 2: Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus. Einweihung. Festschrift, Tübingen 2017, S. 26 (Landeskirchliches Archiv Stuttgart). Gemeinfrei, via https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=73971145).

 

Literatur:

Bhattacharya, N.: Contagion and Enclaves: Tropical Medicine in Colonial India, Liverpool 2012.

Conrad, S.: Deutsche Kolonialgeschichte. 4. Auflage, München 2019.

Yuan, W.: Spread of Traditional Chinese Medicine to the West and the Development of Sinology: A Case Study Based on the Translation of Traditional Chinese Medicine Literature by German Doctor Gottlieb Olpp, Chin Med Cult 2021; 4, S. 165–169.

 

Internetquellen:

Projekt zur Aufarbeitung der lokalen kolonialen Vergangenheit auf der Webseite der Universität Tübingen, URL: https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/mathematisch-naturwissenschaftliche-fakultaet/fachbereiche/geowissenschaften/arbeitsgruppen/geographie/forschungsbereich/wirtschaftsgeographie/arbeitsgruppe/kolonialismus-in-tuebingen/einfuehrung/ (20.01.2023).

Projekt zur Aufarbeitung der lokalen kolonialen Vergangenheit auf der Webseite der Universität Tübingen, hier speziell zur Tropenmedizin, URL: https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/mathematisch-naturwissenschaftliche-fakultaet/fachbereiche/geowissenschaften/arbeitsgruppen/geographie/forschungsbereich/wirtschaftsgeographie/arbeitsgruppe/kolonialismus-in-tuebingen/tropenmedizin-in-tuebingen/#c1613717 (20.01.2023).

TCM-Illustration eines menschlichen Pulses, URL: https://wellcomecollection.org/works/qnw696wh (20.01.2023).

Webseite des Difäm, Reiter ‚Geschichte‘, URL: https://difaem.de/ueber-uns/geschichte-des-difaem.html (20.01.2023).


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