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Orakel in Ulm


Das Ifá-Brett, wie es heute im Museum Ulm zu sehen ist. CC BY-NC / Museum Ulm / Bernd Kegler, Ulm, https://bawue.museum-digital.de/object/2776.
Das Ifá-Brett, wie es heute im Museum Ulm zu sehen ist. CC BY-NC / Museum Ulm / Bernd Kegler, Ulm, https://bawue.museum-digital.de/object/2776.

„Groß sind die Werck deß Herrn / wer ihr achtet / der hat eytel lust daran.“[1] Mit diesem Psalm[2] leitet der Ulmer Kaufmann Christoph Weickmann (1617–1681) den 1659 veröffentlichten Katalog zu seiner Kunst- und Naturkammer ein. Der Anspruch war klar formuliert: Gottes Schöpfung abbilden und die „Welt im Kleinen“ präsentieren.[3] Höhepunkt der Sammlung waren 21 Objekte aus Westafrika.[4] Das kunstvoll geschnitzte Holzbrett, „Ifá-Brett“ genannt, sticht daraus hervor (Abb. 1): Da ein solches Brett eine ganze religiöse Weltsicht abbildet,[5] ist es ein besonders eindrückliches Zeugnis der Kultur der Yoruba, einer im heutigen Benin und Nigeria ansässigen Volksgruppe.

 

Daraus ergeben sich Fragen: Welches Bild einer „Welt im Kleinen“ sahen Zeitgenossen bei der Betrachtung des Bretts? Welche Weltsicht transportiert das Brett seinerseits? Aus welchem Kontext stammt es?

 

Staunen über fremde Welten – Das Ifá-Brett in der Kunstkammer

Weickmann erhielt das Ifá-Brett um 1658[6] im Ensemble mit den übrigen westafrikanischen Objekten über den Augsburger Kaufmann Johann Abraham Haintzel.[7] Dieser bereiste zwischen 1652 und 1658 Westafrika und erwarb die Gegenstände vermutlich selbst. Dafür spricht die ungewöhnlich detaillierte Provenienzangabe im Katalog,[8] die auf Informationen aus erster Hand schließen lässt.[9] Mit seinen westafrikanischen Objekten und den präzisen Angaben dazu war Weickmanns Kunstkammer eine überregionale Attraktion der Stadt Ulm im 17. Jahrhundert.[10]

 

Katalogseite (1659): Beschreibung des Ifá-Bretts © Public Domain, http://dx.doi.org/10.25673/opendata2-25059.
Katalogseite (1659): Beschreibung des Ifá-Bretts © Public Domain, http://dx.doi.org/10.25673/opendata2-25059.

In barocken Kunstkammern war die Welt im Kleinen – macrocosmos in microcosmo – versammelt.[11] Ihre ‚Weltrepräsentanz‘ ergab sich aus zwei Aspekten: Aus der Wirkung der Einzelobjekte, die kleine Ausschnitte der Welt repräsentierten, und aus der Symbolwirkung der „räumlichen Inszenierung des Gesammelten“.[12] Dies wird auch im Weickmannianum deutlich.

Die Kunstkammer Weickmanns folgte einer strengen Ordnung, die sich im Katalog widerspiegelt: In den ersten Katalogkapiteln wird die Schöpfung vom „Menschen“[13] bis zu den „Erden“[14] umgekehrt erzählt.[15] Daran anschließend verzeichnet er „frembde Kunst- und Curiose Sachen“,[16] darunter die westafrikanischen Objekte, in einem eigenen Kapitel. Damit präsentierte er den Besucher*innen seiner Kunstkammer ein Bild der Welt, das aus vielen neuen Eindrücken bestand, diese aber in bekannte Muster einordnete.

 

Weickmann selbst blickte ambivalent auf das Ifá-Brett: Einerseits beschrieb er die Schnitzereien als „abschewliche Teufelsbilder“,[17] andererseits war er sichtbar stolz, dass das Brett „von dem ietz Regierenden König zu Haarder [Allada im heutigen Benin] selbsten infestirt [„einweihen“: interpretiert als Abwandlung des Wortes „investieren“, CE],[18] und von ihme gebraucht worden.“[19] Beim Betrachten des Bretts stand das Staunen über die kunstvollen Schnitzereien und das Nachdenken über seine Verwendung als „Opferbrett“[20] im Vordergrund. Dies hatte den Effekt, dass das Objekt als Projektionsfläche eigener Vorstellungen[21] und der Vergewisserung der eigenen religiösen und kulturellen Identität diente.[22]

 

Das durch das Ensemble der Objekte und das Ifá-Brett in der Kunstkammer vermittelte Bild einer „Welt im Kleinen“ bediente also das Bedürfnis der Besucher*innen, „fremde Welten“ zu erfahren und die Vielfalt der Schöpfung zu bewundern. Außerdem konnte Weickmann mit den detaillierten Informationen zur Sammlung seine eigene Weltläufigkeit präsentieren. Die Nennung des „Königs zu Haarder“ scheint der Aufwertung des Ifá-Bretts durch seine Herkunft gedient zu haben.[23]

 

Westafrika: Yoruba-Gebiet und Allada.  Eigene Darstellung, basiert auf: FALOLA (2019), S. 15.
Westafrika: Yoruba-Gebiet und Allada. Eigene Darstellung, basiert auf: FALOLA (2019), S. 15.

Ein anderer Blick auf die Welt? – Das Ifá-Brett in Westafrika und sein Weg nach Europa

Das Ifá-Brett selbst vermittelt einen anderen Blick auf die Welt: Es soll ein Abbild des gesamten Kosmos sein[24] und gibt damit einen Einblick in die religiösen Vorstellungen der Yoruba. Die vier Seiten des Bretts symbolisieren Himmelsrichtungen. In seinem Zentrum wird die übergreifende Gottheit, Olódùmarè, verortet[25] und der Kopf des „Götterboten“ Eshu ist hervorgehoben eingeschnitzt.[26] Derartige Abbildungen wurden als Orte göttlicher Macht begriffen.[27] Es diente den Yoruba als Kontaktmedium mit der Gottheit Ọrunmila/Ifá, die vor wichtigen Entscheidungen befragt wurde.[28] Die Durchführung dieser streng ritualisierten Handlung war Priestern (Babaláwo) vorbehalten, die eine herausgehobene Stellung einnahmen. Daran wird deutlich, dass das Ifá-Brett zentral für die religiöse Praxis der Yoruba war.

 

Wie kam das Brett nun in das Weickmannianum? Zu den genauen Umständen des Erwerbs durch Haintzel liegen kaum Quellen vor.[29] Zumindest ein Indiz weist aber darauf hin, dass zwischen Ursprungs- und Erwerbskontext des Bretts differenziert werden muss: Ein Blick auf die Landkarte (Abb. 3) zeigt, dass das Herrschaftsgebiet Alladas im 17. Jahrhundert außerhalb des Yoruba-Kulturraums lag.[30] Auch stammten viele der anderen ausgestellten westafrikanischen Objekte tiefer aus dem Landesinnern und nicht aus Allada selbst.[31]

 

Haintzel erwarb die Objekte in Diensten der schwedischen und ab 1657 der dänischen Afrikakompanie vermutlich über Handel und diplomatischen Geschenkaustausch.[32] Diese Praxis war üblich, da die Europäer beim Handel mit Sklaven und Gold auf die Unterstützung lokaler Herrscher angewiesen waren.[33] Allada war dabei ein zentraler Umschlagplatz und der dortige König beanspruchte in diesem Handel Sonderrechte:[34] Er hatte unter anderem das Recht, seine Sklaven vor allen anderen Händlern zu verkaufen.[35] Da das Ifá-Brett in Weickmanns Katalog diesem persönlich zugeordnet wird, stellt sich die Frage, ob es am Hof von Allada als besonderes, königliches Objekt angesehen wurde. In diesem Fall war es womöglich ein herausgehobenes Geschenk an Haintzel.

 

Die Rekonstruktion der Erwerbsumstände ist also schwierig: Auf welchem Weg kam das Ifá-Brett an den Hof von Allada? Welche Funktion hatte es dort und in welchem Verhältnis stand diese zu seinem Gebrauch bei den Yoruba? Diese Fragen zur innerafrikanischen Geschichte des Bretts bleiben offen. Sein Transfer nach Europa steht aber in Verbindung mit dem Engagement europäischer Handelskompanien im frühneuzeitlichen Sklavenhandel.

 

Fazit: Zwei Welten unter einem Dach

Für die Besucher*innen der Sammlung Weickmanns repräsentierte das Ifá-Brett einen Ausschnitt einer „frembden“ Welt. Die genauen Umstände seines Erwerbs sind unklar. Allerdings wurde es wohl als Prestigeobjekt angesehen. Damit war es eine besondere Attraktion der Sammlung und diente sowohl dem Ansehen Weickmanns als auch dem der Reichsstadt im 17. Jahrhundert. Auch heute wird das Brett – im Ensemble mit anderen Objekten des Weickmannianums – im Ulmer Stadtmuseum im Stil einer barocken Kunstkammer ausgestellt. Deren Weltrepräsentanz ist so auch im 21. Jahrhundert erfahrbar.

 

Das Ifá-Brett selbst erzählt eine eigene Geschichte: Es gibt einen Einblick in die religiöse Vorstellungswelt der Yoruba im 17. Jahrhundert. Ob Weickmanns Zeitgenossen bewusst war, dass das Brett ebenfalls – wie die Kunstkammer – ein Abbild der gesamten Welt darstellen sollte, ist zu bezweifeln. „The global became local“[36] gilt also in doppelter Hinsicht und konstituiert ein facettenreiches Spannungsverhältnis der Darstellung einer „Welt im Kleinen“.

 

Ein Beitrag von Clemens Eberlein


Fußnoten:

[1] Weickmann, Christoph, Exoticophylacium Weickmannianum. Oder Verzeichnus Underschiedlicher Thier/ Vögel/ Fisch/ Meergewächs/ Ertz- und Bergarten/ Edlen und anderen Stain/ außländischem Holtz und Früchten/ fremden und seltzamen Kleidern und Gewöhr/ Optischen/ Kunst- und Curiosen Sachen/ Mahlereyen/ Muschel und Schneckenwerck/ Heydnischen/ und andern Müntzen/ [et]c. Ulm 1659 (heute: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, digital unter http://dx.doi.org/10.25673/opendata2-25059), S. 2. (letzter Zugriff: 20.06.2023).

[2] Ps. 111.2.

[3] Bujok, Elke, Neue Welten in europäischen Sammlungen. Africana und Americana in Kunstkammern bis 1670, Berlin 2004, S. 9. Siehe auch: Dathe, Stefanie, Erwarten Sie Wunder! Das Museum als Kuriositätenkabinett und Wunderkammer, in: Dathe, Stefanie / Leistenschneider, Eva (Hg.),  Erwarten Sie Wunder! Das Museum als Kuriositätenkabinett und Wunderkammer, Ulm 2017, S. 26–29, hier S. 27.

[4] Vgl. Roth, Michael, Die Kunst- und Naturalkammer des Kaufmanns Christoph Weickmann im Ulmer Museum, in: Müller-Bahlke, Thomas (Hg.), Matthias Beckmann: Zeichenraum Wunderkammer. Zeichnungen aus den Kunst- und Wunderkammern in Ulm, Gotha, Kremsmünster, Waldenburg und Halle, Ulm 2007, S. 25–42, hier S. 27.

[5] Vgl. Olúpǫ̀nà, Jacob, City of 201 Gods. Ilé-Ifè in Time, Space, and the Imagination, Berkeley 2011, S. 31.

[6] Vgl. Jones, Adam, Eine deutsche Sammlung afrikanischer Kunst im 17. Jahrhundert. Die Kunst- und Naturkammer Christoph Weickmanns, in: Holthuis, Gabriele (Hg.), Gewebte Identitäten. Afrikanische Textilien und Fotografien aus den Sammlungen Weickmann und Walther, Bönen 2013, S. 92–121, hier S. 115.

[7] Vgl. ebd. S. 116.

[8] Vgl. Weickmann (1659), S. 52.

[9] Vgl. ebd. Siehe auch Bujok (2004), S. 140. Im Unterschied zu den westafrikanischen Objekten benennt Weickmann Objekte aus Mittel- und Südamerika lediglich als „indianisch“. Zumeist waren die Angaben in frühneuzeitlichen Katalogen sehr dünn. Vgl. dazu: Laube, Stefan, Schau auf mich und Staune! Narrative Ebenen der Kunst- und Wunderkammer, in: Eming, Jutta et al. (Hg.), Wunderkammern. Materialität, Narrativik und Institutionalisierung von Wissen, Wiesbaden 2022, S. 123–144, hier S. 144.

[10] Vgl. ebd. S. 29. Siehe auch: Leistenschneider, Eva, Die ganze Welt in Ulm. Die Kunst- und Wunderkammer des Kaufmanns Christoph Weickmann, in: Dathe / Leistenschneider (2017), S. 8–25, hier S. 9.

[11] Valter, Claudia, Studien zu bürgerlichen Kunst- und Naturaliensammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Deutschland, Aachen 1995, S. 10. Siehe auch: Dathe (2017), S. 27.

[12] Rehberg, Karl-Siegbert, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Analyse in systematischer Absicht, in: Ders., Symbolische Ordnungen. Beiträge zu einer Soziologie der Institutionen, hg. von Hans Vorländer, Baden-Baden 2014, S. 175–230, hier S. 220.

[13] Weickmann (1659), S. 3.

[14] Ebd. S. 50.

[15] Vgl. Valter (1995), S. 71.

[16] Weickmann (1659), S. 51.

[17] Ebd. S. 52.

[18] Vgl. Vansina, Jan, Art History in Africa. An Introduction to Method, London / New York 1984, S. 3.

[19] Weickmann (1659), S. 52.

[20] Ebd. S. 53.

[21] Vgl. Collet, Dominik, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007, S. 350.

[22] Vgl. Siebenhüner, Kim, Colonial Objects in the Cabinet of Curiosities? Christoph Weickmann’s “outlandish things” in Ulm, [in Vorbereitung], S. 1.

[23] Siehe dazu Bujok (2004), S. 142: Bei Weickmann besteht die Tendenz, Objekte durch ihre illustre Herkunft zu überhöhen.

[24] Vgl. Ogunnaike, Oludamini, Deep Knowledge. Ways of Knowing in Sufism and Ifa. Two West African Intellectual Traditions (Africana Religions 5), University Park 2020, S. 292.

Siehe außerdem zum Ifá-Kult: Olúpǫ̀nà, Jakob / Abíọ́dún, Rowland (Hg.), Ifa Divination, Knowledge, Power, and Performance, Bloomington / Indianapolis 2016. Dieser Sammelband enthält auch einige Beiträge, die detailliert auf Funktion und Gestaltung eines Ifá-Bretts eingehen.

[25] Vgl. Olúpǫ̀nà (2011), S. 31.

[26] Vgl. ebd.

[27] Vgl. Hackett, Rosalind, Arts and Religion in Africa, London 1998, S. 57.

[28] Vgl. Falola, Toyin / Usman, Aribidesi, The Yoruba from Prehistory to the Present, Cambridge et al. 2019, S. 275.

[29] Vgl. Siebenhüner, S. 8.

[30] Vgl. Law, Robin, The Kingdom of Allada, Leiden 1997, S. 63.

[31] Vgl. Siebenhüner, S. 7: So stammten etwa teure Tuniken aus dem Mali.

[32] Vgl. ebd. S. 11. Dazu auch: Brauner, Christina, Kompanien, Könige und caboceers. Interkulturelle Diplomatie an Gold- und Sklavenküste im 17. und 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2015, S. 275.

[33] Vgl. Nováky, György, Small Company Trade and the Gold Coast. The Swedish Africa Company 1650–1663, in: Itinerario 16/1 (1992), S. 57–76, hier S. 71.

[34] Vgl. Law (1997), S. 97.

[35] Vgl. ebd. S. 95.

[36] Siebenhüner, S. 3.



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