Das schwäbische Medusenhaupt
1724 wurde nahe der schwäbischen Stadt Kirchheim/Teck bei Holzmaden ein Objekt aus der Erde gehoben. Was heute als Versteinerung einer Seelilie identifiziert ist, bezeichnete der württembergische Hofprediger Hiemer (1682–1727) in Stuttgart als „schwäbischen Medusenkopf“ (Taf. 1). Damit verband sich für Hiemer auch eine Erklärung der Herkunft und Geschichte des Objekts: Der vermeintliche Meeresbewohner, so Hiemer, könne nur durch die biblische Sintflut nach Schwaben geschwemmt worden sein. Wie aber kam der Hofprediger auf diese Erklärung? Und wie gelangten Artgenossen des „schwäbischen Medusenhaupts“ in Museen in aller Welt?
Noch im 18. Jahrhundert wurden Versteinerungen oft als „Naturschauspiel“ abgetan. Obwohl die Funde mit rezenten Lebewesen verglichen wurden, sprach man ihnen den organischen Ursprung ab. Erst eine Gruppe von Gelehrten, die als „Diluvianer“ (lat. Diluvium = Überschwemmung) bezeichnet wurden, deutete die Fossilien als Reste einstiger Lebewesen. Die Versteinerungen seien Menschen und Tiere, die während der Sintflut nicht auf der Arche Noahs Platz gefunden hätten. Der Zürcher Naturforscher Johann Jacob Scheuchzer interpretierte das Fossil eines Riesensalamanders gar als menschliche Überreste eines biblischen Sünders. Das Fossil des „Homo diluvii testis“ (lat. „der die Sintflut bezeugende Mensch“) sei ein Beweis für die biblische Sintflut.[1]
Wie Hiemers Deutung des „Medusenhauptes“ zeigt, dienten Bibel und Schöpfungsgeschichte auch dazu, die häufigen Funde von Fisch- und Schneckenfossilien in Schwaben zu erklären. Wie aber kam Hiemer zu seiner Identifikation als „Medusenhaupt“? Zunächst ging er von der Gestalt des Fundstücks aus und suchte nach ähnlichen, bereits bekannten Objekten. So verglich er sein Fossil mit zeitgenössischen Lebewesen: Stachelhäuter aus dem Atlantik (Taf. 2). Sie werden aufgrund ihres schlangenartigen Aussehens ebenfalls Medusenhäupter genannt und sind tatsächlich entfernt verwandt mit solchen Seelilien wie Hiemers versteinertes Exemplar. Wie konnte nach Schwaben gelangt sein? Vor dem Hintergrund der Sintflut-Theorie schien das durchaus plausibel: Hiemer ging davon aus, dass sein „Medusenhaupt“ mit der Sintflut ins Schwabenland gespült worden war.
Nach dem Tod Hiemers 1727 durchwanderte das Medusenhaupt mehrere private Fossiliensammlungen, bis es schließlich 1827 in die Universitätssammlung Göttingen aufgenommen wurde. Das Medusenhaupt „gehört zu den ersten Fossilen überhaupt, die in Deutschland das akademische Interesse an vorzeitlichem Leben weckten.“[2] Die Paläontologische Gesellschaft e. V. hat deshalb folgerichtig das Medusenhaupt zum Fossil des Jahres 2014 ernannt.
Fossilienhandel
Die wachsende Bekanntheit der schwäbischen Fossilien hatte
zur Folge, dass sie zu begehrten Sammlerstücken und über die Ländergrenzen hinweg verkauft wurden. In Anbetracht des Wertes solcher Funde ordnete auch Herzog Carl Eugen von Württemberg eine
Grabung in den Schieferbrüchen an. Ihm wurden 1749 zwei Fischsaurierfossilien vorgelegt.
1866 berichtete der Pfarrer und Geologe Oskar Fraas schon von einem schwunghaften Fossilienhandel:
Bis zu 100 Gulden wird für ein vollständiges Thier bezahlt. Der Arbeiter tut keinen Schritt zum Verkauf des Fundes, er stellt ihn ruhig zur Seite, weiß er doch, dass fast von Woche zu Woche die Käufer kommen, die Unterhändler der Kabinette und wissenschaftlichen Sammlungen. Kein Pferdehandel wird je mit solchem Eifer abgeschlossen, mit solchem Aufgebot aller Beredsamkeit und Entfaltung aller Künste und Kniffe, als der Saurierhandel, und keiner erfordert neben genauer Kenntnis der Stücke so viel Schlauheit, um nicht, da ohnehin die Katze im Sack gekauft wird, zu Schaden zu kommen. Kein Kauf endlich kommt zu Stande, ohne daß der Käufer noch die besondere Verpflichtung eingehen muß, mit verschiedenen Wein- und Mostflaschen dem gefallenen Helden eine Totenfeier zu veranstalten. [3]
Nicht wenige Funde aus Holzmaden traten nach dem Verkauf
eine Weltreise an. Gut nachvollziehbar ist das bei einem Flugsaurier (Taf. 3). Gefunden wurde das Exemplar 1897 ohne Kopf und die ersten Halswirbel. 1898 konnte beim Fortschreiten des Steinbruchs
der Kopf mit den ersten 4 Halswirbeln nur wenige Meter vom Rumpf entfernt in genau derselben Schicht gefunden werden. Ein Präparator setzte das Skelett wieder zusammen. Es wurde vom belgischen
Diplomaten Ernest de Bayet erstanden. Seine Sammlung von 130.000 Fossilien verkaufte er 1903 in die USA. Der Industrielle Andrew Carnegie zahlte dafür eine Summe von 21.000 Dollar. Das Carnegie
Museum of Natural History präsentiert den schwäbischen Flugsaurier stolz in der Ausstellung „Dinosaurs in Their Time“ (Taf. 3).
Die schwäbischen Fossilien finden sich auch im [MB1] wieder.
[4] Mithilfe der Exponate wird die Geschichte der fossilen
Brennstoffe aufgezeigt. Durch Erhitzen des Schiefers kann „Schieferöl“ gewonnen werden. In der Tat ist auch in Holzmaden selbst die Geschichte der Fossilien eng mit dem Geschäft der
Schieferölproduktion verbunden.
Urweltmuseum Hauff
Der Chemiker Alwin Hauff gründete am Fundort des Medusenhauptes in Holzmaden eine Schieferölproduktion. Das Öl wurde durch Verbrennen des Gesteins gewonnen. Aus diesem Ölschiefer kann unter anderem Ammoniumbituminosulfonat gewonnen werden, ein medizinischer Wirkstoff in Hautsalben. Die hohen Förderkosten machten das Geschäft jedoch nicht rentabel. Im Laufe der Arbeiten kamen immer öfter Versteinerungen ans Licht. Sein Sohn Bernhard nahm sich der Fossilien an (Taf. 4) und entwickelte neue Präparationstechniken. 1892 konnte er seinen ersten Ichthyosaurus mit Hautumrissen vorzeigen. Für seine paläontologische Arbeit bekam er 1921 von der Universität Tübingen die Ehrendoktorwürde. An Hauffs 70. Geburtstag konnte bereits gesagt werden:
Zu Hunderten hat Bernhard Hauff mit seinen Gehilfen den Ichthyosaurus wieder an das Licht des Tages geschafft. Zu viele sind es, um in unseren heimatlichen Sammlungen Platz zu finden. [...] Wo immer wir draußen in ein größeres naturwissenschaftliches Museum eintreten, schauen uns vertraut, wie ein Gruß aus der Heimat, die Fossilplatten aus Holzmaden und Boll entgegen. [5]
Im selben Jahr wurde für die Sammlung ein eigener
Museumsbau in Holzmaden gebaut. Dieser wurde von Bernhard Hauff jun. erweitert. Mittlerweile ist das Urweltmuseum Hauff das größte privat geführte Naturkundemuseum Deutschlands. Es wird in
vierter Generation geführt. Ausgestellt werden eine Vielzahl von Meeressauriern, wie der Ichthyosaurier und der krokodilähnliche Steneosaurier. Das Museum zeigt die größte Seelilienkolonie der
Welt (Taf. 5). Das Fossil hat eine Länge von 18 Metern und eine Höhe von 6 Metern. Das schwäbische Medusenhaupt wird also heute noch von einem würdigen Artgenossen vor Ort vertreten.
Schwäbische Fossilien haben als Exportgut die ganze Welt erreicht. Die Funde aus Holzmaden werden aufgrund ihrer Ästhetik geschätzt und sind für die akademische Forschung unabdingbar. Das
Medusenhaupt hat als erster Vertreter die Fachwelt mit schwäbischen Fossilien bekannt gemacht. Ihm ist zu verdanken, dass Schwaben in allen Naturkundemuseen der Welt zu Hause ist.
Ein Beitrag von Ingo Fiegenbaum
Weiterführende Informationen
Das Urweltmuseum Hauff (https://www.urweltmuseum.de/ (07.08.2023)) ist Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen von 09:00 bis
17:00 Uhr geöffnet. Erwachsene zahlen einen Eintrittspreis von 8,00 €, Kinder ab 6 Jahren/Studenten bis 28 Jahre 5,00 €, Kinder ab 3 Jahren 3,00
€.
Ein zweites Museum befindet sich in Bodmann am Bodensee (Website: https://www.urweltmuseum-bodman.de/ (07.08.2023)). Das Urweltmuseum dort ist vom 1. April bis 30. Oktober
von Donnerstag bis Sonntag von 10:00 bis18:00 Uhr geöffnet. An allen Feiertagen in diesem Zeitraum, auch wenn der Feiertag auf einen Montag fällt. Erwachsene zahlen 7,00 €, Schüler/Hochschulstudenten 4,00 €, Kinder ab
3 Jahre 2,00 €.
Quellen und weiterführende Literatur
Berkheimer, Fritz: Bernhard Hauff zum 70. Geburtstag. – Jahreshefte des Vereins für vaterländische Naturkunde in Württemberg Band. 92, Stuttgart 1936. S. 42 f.
Carnegie Museum of Nautral History: Understanding fossils fuels through Carnegie Museums’ exhibits, URL: https://carnegiemnh.org/understanding-fossil-fuels-through-carnegie-museums-exhibits/ (05.07.2023).
Carnegie Museum of Natural History, URL: https://carnegiemnh.org/bayets-bounty-invertebrates/ (24.03.2023).
Fraas, Oscar: Vor der Sündfluth! (Stuttgart 1866).
Georg August Universität Göttingen, URL:https://sammlungen.uni-goettingen.de/objekt/record_naniweb_462584/ (27.01.2023).
Hauff, Rolf Bernhard/ Joger, Ulrich: Holzmaden. Prehistoric Museum Hauff – A Fossil Museum Since 4 Generations, in: Beck/ Joger (Hrsg.) Paleontological Collections of Germany, Austria and Switzerland. The History of Life of Fossil Organisms at Museums and Universities (Cham 2018), S. 325–329.
Hegele, Anton: „Der Petrefakten zahllos Heer, zum Sammeln nur so lag umher". Zum „Umgang" mit Fossilien im Umfeld der Geopark-Infostelle Boll/Göppingen, in Hofmann/Look (Hrsg.) Geotope - Dialog zwischen Stadt und Land (Wien 2007). S.77–84.
Homepage Andrias scheuchzeri & und Johann Jacob Scheuchzer, Geologie Universität Freiburg, URL: https://www.geologie.uni-freiburg.de/root/people/andrias/scheuchzeri.html (05.07.2023).
Patalong, Frank: Deutschlands bemerkenswerteste Fossilien, in: Spiegel Online (19.02.2014), URL: https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/die-fossilien-des-jahres-2008-bis-2014-im-ueberblick-a-954166.html (06.04.2023).
Reich, Mike: Von Medusenhäuptern und Medusenpalmen. Zur Geschichte einer Fossilienplatte (Göttingen 2014).
Thenius, Erich/ Vávra, Norbert: Fossilien im Volksglauben und im Alltag. Bedeutung und Verwendung vorzeitlicher Tier- und Pflanzenreste von der Steinzeit bis heute (Frankfurt am Main 1996).
Urweltmuseum Hauff, URL: https://www.urweltmuseum.de/urweltmuseum/zoo/seelilien/ (27.01.2023).
Tafelverzeichnis
·
Taf. 1: „Medusenhaupt“,
Georg-August-Universität Göttingen, Museum, Sammlungen & Geopark Göttinger Zentrum Geowissenschaften, Anna Greger, 2022.
· Taf. 2: Stachelhäuter Gorgonocephalus caputmedusae mit Fischen, Le Bestiaire de Rodolphe II, (Paris 1990).
· Taf. 3 Campylognathus liasicus, Ausstellungssituation im Carnegie Museum of Natural History, bereitgestellt durch Albert D. Kollar, invertebrate paleontologist/geologist, architectural historian of Carnegie Building Stones Section of Invertebrate Paleontology Carnegie Museum of Natural History.
· *Taf. 4: Bernhard Hauff bei der Bergung eines Eurhinosauriers aus der Gemeindegrube im Jahr 1912. Teckbote, Bahnbrechende Entdeckungen im Schiefer. https://www.teckbote.de/nachrichten/lokalnachrichten-weilheim-und-umgebung_artikel,-bahnbrechende-entdeckungen-im-schiefer-_arid,96268.html (06.04.2023)
·
Taf. 5: Seironcrinus subangularis Miller, Urweltmuseum
Hauff, Holzmaden
https://www.urweltmuseum.de/museum_f115.html (07.08.2023).
Fußnoten:
[1] Vgl. Homepage Andrias scheuchzeri & und Johann Jacob Scheuchzer, Geologie Universität Freiburg, URL: https://www.geologie.uni-freiburg.de/root/people/andrias/scheuchzeri.html (05.07.2023).
[2] Patalong, Frank: Deutschlands bemerkenswerteste Fossilien, in: Spiegel Online (19.02.2014), URL: https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/die-fossilien-des-jahres-2008-bis-2014-im-ueberblick-a-954166.html (06.04.2023).
[3] Fraas, Oscar: Vor der Sündfluth! (Stuttgart 1866), S. 243 f.
[4] Carnegie Museum of Nautral History: Understanding fossils fuels through Carnegie Museums’ exhibits, URL: https://carnegiemnh.org/understanding-fossil-fuels-through-carnegie-museums-exhibits/ (05.07.2023).
[5] Berkheimer, Fritz: Bernhard Hauff zum 70. Geburtstag. – Jahreshefte des Vereins für vaterländische Naturkunde in Württemberg Band. 92, Stuttgart 1936. S. 42 f.
Wir wünschen viel Freude mit unseren sieben globalen schwäbischen Objekten und ihren Geschichten:
1. Clemens Eberlein: „Orakel in Ulm“
2. Ingo Fiegenbaum: „Schwäbisches Medusenhaupt"
3. Milena Frieling: „Ein Winkelmessgerät in der Wunderkammer?“
4. Sonja Friese: „Von der Mine ins Museum. Die außergewöhnliche Karriere eines Kohlestücks“
5. Rebecca Kowalski: „Tradition im Wandel? Die Schramberger Fasnet“
6. Carolin Mai: „Ein Sticker auf Reisen“
7. Lukas Schultze-Melling: „Goldene Grüße aus Übersee“
Seminargruppe, Redaktion: Sonja Friese und Christina Brauner
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