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„Wie lange wollt ihr bleiben? – Für immer.“ - Hausbesetzer*innenszene in Tübingen

Lesezeit ca. 2 Minuten

Die "Gartensia", Bild: Lisa Blum.
Die "Gartensia", Bild: Lisa Blum.

Die Bewohner*innen der Gartenstraße 7 haben sich klare Ziele gesetzt. Schon fast seit einem Jahr kochen, singen, schlafen, leben und lieben mal mehr, mal weniger Menschen in der „Gartensia“ nahe der Neckarbrücke, die zuvor leer stand. Am 19.07.2019 beschlossen die selbsterklärten „Gärtner*innen“ dies zu ändern, und zogen kurzerhand ein – sie waren gekommen, um zu bleiben. 

 

Hausbesetzungen, eine Art des Widerstands gegen knappen Wohnraum, teure Mieten und der daraus resultierenden Wohnungsnot, haben in Tübingen eine lange Tradition. Bereits im Jahr 1968 besetzten etwa 200 Personen die Büros des Luftschutzhilfdiensts in der Wilhelmstraße, um dort ein autonomes Zentrum für psychologische Lehre und Forschung zu gründen – ein Ziel, dass sie nicht mehr verwirklichen konnten, denn bereits drei Tage später wurde das Gebäude mit massivem Polizeiaufgebot geräumt. 

 

Das Epplehaus, Bild: Lisa Blum.
Das Epplehaus, Bild: Lisa Blum.

 

Erfolgreicher in der Umsetzung war und blieb die Besetzung der Karlstraße 13, besser bekannt als das Epplehaus. Die Forderungen nach einem neuen Jugendhaus konnten durchgesetzt werden, und auch heute ist das bunt besprühte Gebäude ein soziokulturelles Zentrum und fester Teil des Tübinger Stadtbildes (siehe auch unser Beitrag „Bunte Geschichte des Epplehauses“). Tatsächlich sind viele Ergebnisse mehr oder weniger spontaner Besetzungen aus der Universitätsstadt nicht mehr wegzudenken. Die Münze 13 mit dem „Blauen Salon“ seit 1977, die Ludwigsstraße 15 wurde 1979 besetzt oder die Schellingstraße 6 im Jahr darauf. Der erfolgreiche Aufbau dieser Wohnprojekte, die heute Teil des Mietshäusersyndikats sind oder vom Studierendenwerk e.V. teilverwaltet werden, ist auf diese Proteste der Besetzer*innen Ende der 1970er Jahre zurückzuführen, und ihre nachhaltigen Forderungen nach bezahlbarem, gemeinschaftlichem Wohnraum für alle. An den Besetzungen waren durchaus nicht nur Studierende beteiligt, auch Schüler*innen, Auszubildende und junge, arbeitende Menschen engagierten sich für die gemeinsame Sache.

 

 

Zahlreich waren auch symbolische Besetzungen in Tübingen, mit politischen Statements, die abseits von Fragen der Behausung standen. Im Januar 1981 kam es zu einem friedlichen „Sit-In“ von etwa 50 jungen Menschen im Deutsch-Amerikanischen Institut in Tübingen. Mit der zweitägigen Besetzung wollten die Besetzer*innen gegen die Mittelamerikapolitik des neuen amerikanischen Präsidenten Reagan demonstrieren. Einen Monat später solidarisierten sich fünf Personen mit den Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion, besetzten die Stiftskirche und traten (zumindest für sechs Stunden) gemeinsam mit ihnen in den Hungerstreik.

 

Die Stiftskirche in Tübingen, Bild: Lisa Blum.
Die Stiftskirche in Tübingen, Bild: Lisa Blum.

 

Zu einer weiteren, besonders dramatischen Szene in der Stiftskirche kam es am Heiligabend 1990. Aus allen Teilen Baden-Württembergs suchten 150 Roma und Romnja vor einer Abschiebung an dem geweihten Ort Zuflucht. Viele der Menschen und ihre Familien waren in ihrem Gesuch nach Asyl bereits abgelehnt worden. Ihnen drohte eine gezwungene Rückkehr in ihre Herkunftsländer, darunter Jugoslawien, Rumänien und die Tschechoslowakei, in denen sie Repressionen, Willkür und Gewalt erfahren hatten und nun wieder fürchten mussten. Am 24. Dezember mischten sich die Asylsuchenden unter die anderen Menschen in der voll besetzten Kirche, und blieben nach der Veranstaltung einfach dort. Bis zum 17. Januar 1991 harrten die Besetzer*innen aus, sie hatten unterdessen eine provisorische Küche und Schlafstätten im Kirchenschiff errichtet. Nach über drei Wochen der langen Verhandlungen mit Dekan, Pfarrer, Kirchengemeinde und der Landesregierung gingen die Roma und Romnja auf das Angebot des damaligen Innenministers Dietmar Schlee ein: Sie durften ihre Anträge erneut stellen und einer Prüfung unterziehen lassen. Dies stellte allerdings keinen wirklichen Erfolg für die Besetzer*innen dar, so Landesvorsitzender des Verbandes „Union Roma“ Jasar Demirov[1]: „Für uns bedeutet das Verhandlungsergebnis konkret, daß [sic] die bisherige Abschiebepolitik ohne Abstriche fortgesetzt wird. Wir haben die Kirche aus Sympathie für unsere Unterstützer verlassen – aber wohin?“[2] Ein weiterer Grund für die Rückkehr in ihre jeweiligen Asylunterkünfte waren wohl auch die Polizeikontrollen der letzten Woche der Besetzung, die Angst vor einer Räumung schürten – und nicht zuletzt eine Bombendrohung, die die Besetzer*innen erhalten hatten.

 

 

Das weitere Schicksal der Gruppe ist unklar. Zu manchen Zeitpunkten schien es allerdings einfacher, in einem fremden Haus geduldet zu werden, als als „fremder“ Mensch in Baden-Württemberg. Heute dürfen sich auch die Bewohner*innen der Gartensia einer Duldung erfreuen. In ein paar Tagen feiern sie das einjährige Jubiläum der Besetzung. 

 

 

Ein  Beitrag von Lisa Blum


Fußnoten:

Zitat in der Überschrift: https://gartensia.noblogs.org/faq/ (externer Link, letzter Aufruf 02.07.2020).

[1] Mehr zur Person Demirovs unter: Sintflut im Lager. In: Der Spiegel (15/1991), online unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13488267.html, (externer Link, letzter Aufruf 30.06.2020). 

[2] Zit. n. Scheytt/Schröm 1991.

 

Weiterführende Literatur und Quellen (enthalten externe Links): 

Pyka, Christiane: Get Together. 50 Jahre d.a.i. Tübingen, In: Bechdolf, Ute und Pyka, Christiane (Hrsg.): Politics and Pop, People and Partnership. 50 Jahre Deutsch-Amerikanisches Institut Tübingen, Tübingen 2002. 

Blog der Gartensia: https://gartensia.noblogs.org, letzter Aufruf 02.06.2020.

Lohr, Sabine: Das Epplehaus wird 40. Schwäbisches Tagblatt am 18.06.2012, online unter: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Das-Epplehaus-wird-40-153838.html, letzter Aufruf 02.06.2020.

Hermann, Dorothee: 30 Jahre Schellingstraße – später Erfolg für Hausbesetzer/innen. Schwäbisches Tagblatt am 21.06.2010, online unter: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/30-Jahre-Schellingstrasse-spaeter-Erfolg-fuer-Hausbesetzerinnen-214324.html, letzter Aufruf 02.06.2020.

Scheytt, Stefan und Schröm, Oliver: Kein Kartenspiel vor dem Altar. Asylsuchende Roma brechen ihre Aktion ab, Die Zeit 04/1991, online unter: https://www.zeit.de/1991/04/kein-kartenspiel-vor-dem-altar/komplettansicht, letzter Aufruf 02.06.2020.

Blog: „Hausbesetzungen in Tübingen“, online unter: https://hausbesetzungen-tuebingen.mtmedia.org, letzter Aufruf 02.06.2020.

Dpa: Rechtsbruch mit bisschen Rückhalt: Hausbesetzer im Südwesten, Süddeutsche Zeitung 14.10.2019, online unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/kommunen-tuebingen-rechtsbruch-mit-bisschen-rueckhalt-hausbesetzer-im-suedwesten-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-191014-99-287663, letzter Aufruf 02.06.2020.

Tübinger Stadtchronik, online unter: https://www.tuebingen.de/2319.html#/176/213, letzter Aufruf 02.06.2020.


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