Welche Probleme bestehen in der aktuellen Erinnerungskultur? Mit welchen Herausforderungen sind Gedenkstätten konfrontiert? Diese Fragen stellten sich Studierende der Übung „Hohle Rituale? Verbrechen erinnern im 21. Jahrhundert“ gemeinsam mit ihrem Dozenten Prof. Dr. Henning Tümmers in Teil 1 dieses Interviews. Im Anschluss an die Darlegung des aktuellen Standes diskutierte der Kurs über mögliche Elemente einer neuen Erinnerungskultur und ihre durch die Übung veränderte Sicht auf Gedenkstätten: Wie könnte und sollte eine neue Erinnerungskultur aussehen?
Carolin Mai: Wie sollte eurer Meinung nach eine „gelungene“ Gedenkkultur gestaltet sein? Wie könnte das konkret aussehen?
Maren Brugger: Wir haben im Kurs diskutiert, dass es nicht das universale Konzept dafür gibt, allein schon, weil die Orte und die Verbrechen zu unterschiedlich sind. Die Verbrechen sind in unterschiedlichen Zeiten verübt worden, aber auch die Menschen, die dorthin kommen, sind unterschiedlich. Dennoch könnte man einen Katalog entwickeln, der Aspekte enthält, die eine gelungene Erinnerungskultur ermöglichen und diese Orte zugänglicher machen können.
Nadine Roch: Wichtig sind doch die gesellschaftlichen Bedingungen der Verbrechen. Es geht um die Kontexte: Wie kam es zu gewissen Situationen? Das hängt natürlich damit zusammen, was man mit der Erinnerung erreichen möchte, zum Beispiel Demokratisierung zu stärken. In diesem Fall wäre es sinnvoll, über Strukturen aufzuklären, die eine Diktatur ermöglichten.
Malte Rong: Die Frage nach dem Ziel der Erinnerung, des Gedenkens, sollte immer am Anfang stehen. Alles andere muss sich daran orientieren.
Maren Brugger: Ziel von Erinnerung könnte sein, dass man von einer Ritualisierung wegkommt und sich intensiv mit den historischen Verbrechen auseinandersetzt. Historisches Lernen sollte ermöglicht werden und der Erinnerung ein gesichertes, wissenschaftliches Fundament geben. Gleichzeitig gilt es, das neue Wissen auf die eigene Lebenswelt zu beziehen: Was bedeutet die Geschichte für mich heute? Was hat das mit mir zu tun, warum bin ich überhaupt hier?
Felix Gogollok: Wenn wir alle gesellschaftlichen Gruppen einbeziehen wollen, stellt sich das Problem, dass Gedenkstätten in Deutschland sehr auf den Nationalsozialismus fokussiert sind. Im Zuge der Migration von Menschen haben diese aber teilweise andere Hintergründe, Voraussetzungen und Interessen.
Friederike Drellmann: Es geht darum, alle Altersgruppen und alle Gruppen der Gesellschaft anzusprechen und sich nicht nur auf Schulklassen zu fokussieren, die den Großteil der Besucher*innen ausmachen. Problematisch ist zudem die jüngere Entwicklung, wonach Gedenkstätten wie in Berlin, Ruanda oder Washington zu touristischen Attraktionen verkommen.
Johannes Buck: Gedenkstätten sollten außerdem zeitgemäß gestaltet sein. Eine Dauerausstellung beispielsweise, die 2003 entstand, sollte an neuere Ergebnisse der Forschung und gesellschaftliche Veränderungen angepasst werden. Die ältere Generation hat vielleicht noch einen direkteren Bezug, beispielsweise zur Stasi-Überwachung. Aber für meine Generation oder für die folgende, für die ist das DDR-System bereits weit weg.
Felix Gogollok: Die Ausstellungen in Gedenkstätten sollten deshalb alle paar Jahre durch eine Kommission evaluiert und dann überarbeitet werden.
Maren Brugger: Erinnerungskultur misst sich daran, wie wir aktuell als Gesellschaft sind, wie wir denken. Erinnerungskultur ist doch etwas, das sich immer auch auf die Gegenwart bezieht. Die Erinnerungskultur hat sich ja immer wieder verändert. Aktuell müssen wir uns wieder Gedanken machen, wie eine neue Erinnerungskultur aussehen kann und wie man sie inhaltlich gestaltet.
Henning Tümmers: Tatsächlich scheint es für die „Zukunft der Erinnerung“ keine „one fits all“-Lösung zu geben. Vielmehr gilt es zunächst, eine Reihe von Grundsatzentscheidungen zu treffen: Worin besteht das vorrangige Ziel der Gedenkstätte oder des Mahnmals? Ist es die Selbstdarstellung eines Nationalstaats? Ist es Informationsvermittlung? Ist es der Anspruch, persönlichem Gedenken einen Raum zu geben? Die zweite Grundsatzfrage betrifft die Adressat*innen. Wen will ich eigentlich erreichen? Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, werden sich auch die Gedenkkonzepte unterscheiden. Daneben existieren einige Aspekte, die aber bereits angesprochen wurden. Etwa die Frage nach der Flexibilität der Ausstellungen. Begrüßenswert fände ich es auch, wenn sich Gedenkstätten weniger „politisch“ präsentieren würden: Mich persönlich haben die Konzepte einzelner Erinnerungsorte in den USA eher irritiert. Mir sind sie zu pathetisch aufgeladen und zu heroisch inszeniert. Auch über eine thematische Ausweitung gilt es, nachzudenken. Dazu gehört, ob der Kolonialismus als Vorgeschichte des Nationalsozialismus erzählt wird. Wichtig erscheint mir außerdem, nach historischen Mustern oder Paradigmen zu fragen und sie zu präsentieren: Was macht eine Gesellschaft zu einer Ausgrenzungsgesellschaft? Existieren generalisierbare Erkenntnisse? Unser Seminar hat gezeigt, dass man in jedem Fall harte Daten und Fakten präsentieren muss, um solche Muster zu erkennen und sie Besucher*innen zu vermitteln. Schließlich erscheint es gleichzeitig angebracht, Möglichkeiten und Räume für persönliches Erinnern von Angehörigen der Verfolgten zu schaffen.
Wie hat sich eure Sicht auf Gedenkstätten verändert?
Felix Gogollok: Ich habe vor dem Besuch der Übung an der Zeitmäßigkeit der Gedenkstätten und der Erinnerungskultur gezweifelt. Während der Übung fand ich besonders die Konzeption der Gedenkstätten bzw. des Memorial Museums in den USA spannend. Dort haben einige Gedenkstätten eine eher touristische Ausrichtung, was vielleicht auch mit der Finanzierung zu tun hat.
Malte Rong: Eine Lehrerin hat erzählt, dass sie am liebsten alle zwei Wochen mit ihren Schülern nach Auschwitz fahren würde. Bereits vor der Übung habe ich mich gefragt, was der Beweggrund mancher Besucher sein mag:. Geht es ihnen um „Buße“ für die Verbrechen der Deutschen oder um die Faszination des Grauens? Ich habe mich gefragt, inwiefern man verhindern sollte, dass bestimmte Menschen Gedenkstätten als eine Art „Dark Tourism“ besuchen. Wie lässt sich sowas vermeiden? Ich bin zu keiner Lösung gekommen.
Anton Mohr: Ich hatte ursprünglich eine recht unkritische Sicht auf Gedenkstätten. Ich hatte bereits einige besucht und war immer davon ausgegangen, dass es Expert*innen waren, die das Konzept entwickelt haben. Somit habe ich es nicht hinterfragt. Manchmal habe ich auch festgestellt, dass mir der Besuch persönlich nicht viel gebracht hat. Ich dachte aber, dass es an mir liegt und weniger an der Gedenkstätte.
Johannes Buck: Dadurch, dass wir uns tiefergehend mit Gedenkstätten beschäftigt haben und wir auch nicht nur die großen Gedenkstätten thematisierten, hat es meinen Blick dafür geschult, wie oft mir „Gedenken“ und „Erinnerungskultur“ in meinem Alltag begegnen, z. B. als Straßennamen oder Stolpersteine. Üblicherweise läuft man an Orten des Gedenkens einfach vorbei, ohne sie tatsächlich wahrzunehmen.
Maren Brugger: Auch ich habe die Konzepte stärker hinterfragt und vor allem deren Wirkung. Gerade aus didaktischer Perspektive: Wo sind da vielleicht noch Chancen, aber eben auch Grenzen der Erinnerungsarbeit? Gedenkstätten wird vonseiten der Politik ein großes Gewicht zugesprochen. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach deren Finanzierung.
Nadine Roch: Als wir in der Übung anhand empirischer Studien über die Wirkung von Gedenkstätten gesprochen haben, war meine Welt kurz ein bisschen erschüttert. Ich hätte nie gedacht, dass die Wirkung als so gering bewertet wird. Das Seminar hat mich insofern belehrt, dass man viel hinterfragen muss. Aber die Ratlosigkeit, die hat sich jetzt verstärkt. Gerade im Anbetracht der aktuellen Geschehnisse bin ich stark verwundert, weil meiner Meinung nach definitiv Handlungsbedarf besteht, etwas zu ändern.
Tobias Lauer: Ich bin ebenfalls ein bisschen resigniert und ratlos, gleichzeitig aber auch wieder ein bisschen optimistischer: Denn wir haben grundsätzlich über Konzepte nachgedacht und uns dabei erlaubt, die etablierte Gedenkkultur in Frage zu stellen. Ich denke, dass wir und andere in Zukunft etwas erreichen können. Versuchen sollte man es sowieso. Ich bin zur Erkenntnis gekommen, dass vieles auch auf individueller, persönlicher Ebene stattfinden muss: Man kann sich nicht darauf verlassen, dass Regierungen und Staaten von oben herab alles lösen und lenken können. Ich würde mir daher wünschen, dass mehr Impulse aus der Gesellschaft kommen.
Henning Tümmers: Was mich erstaunt hat, ist diese Diskrepanz zwischen politischen Erwartungen, die an eine Gedenkstätte herangetragen werden, und dem, was sie leisten können. Tatsächlich konnte ich nur wenige empirische Studien zur Wirkmacht von Gedenkstättenbesuchen finden. Aber diese wenigen Arbeiten zeichnen ein ernüchterndes Bild. Beispielsweise erklärt Michael Sauer in einer Untersuchung von 2011: „Einstellungsveränderungen finden nur geringfügig statt“. Christian Kuchler, der sich Auschwitzfahrten ansah, konstatierte 2021, man dürfe „keine zu hohe Erwartung an eine unmittelbare Wirkung des Gedenkstättenbesuches formulieren“. Vielleicht muss man dahin kommen, die Möglichkeiten von Erinnerungsorten realistischer zu sehen und über Alternativen oder didaktische Ergänzungen nachzudenken.
Friederike Drellmann: Ich habe festgestellt, dass Gedenkstätten nicht Orte sind, die alles leisten können. Obwohl das ganz oft von ihnen, auch von der Politik, erwartet wird. Zuletzt hat das 2024 das „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“ von Claudia Roth gezeigt. Es wird sehr viel auf Gedenkstätten abgewälzt, aber es muss auch andere Formen der „Erinnerung“ geben. Gedenkstätten sind ein wichtiger Teil davon, aber sie sollten verschiedene Nuancen haben und verschiedene Gruppen bedienen können. Letztlich sind Gedenkstätten nicht die einzige Form der Erinnerungskultur.
Tübingen, 12.2.2025
Ein Interview von Carolin Mai
Im Interview haben Maren Brugger, Johannes Buck, Friederike Drellmann, Felix Gogollok, Tobias Lauer, Anton Mohr, Nadine Roch, Malte Rong und Prof. Dr. Henning Tümmers diskutiert.
Weiterführende Literatur zum Thema:
Doron Bar: Yad Vashem. The Challenge of Shaping a Holocaust Remembrance Site 1942-1976, Berlin, Boston 2022.
Ger Duijzings: Commemorating Srebrenica. Histories of Violence and the Politics of Memory in Eastern Bosnia. In: Xavier Bougarel/Elissa Helms/Ger Duijzings (Hrsg.): The New Bosnian Mosaic. Identities, Memories and Moral Claims in a Post-War Society, Hampshire, UK 2007, S. 141-166.
Peter Erler: Vom zentralen „Stasi-Knast“ zum bedeutendsten Erinnerungsort der zweiten deutschen Diktatur. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 41 (2017), S. 59-76.
Iris Groschek / Habbo Knoch (Hrsg.): Digital Memory. Neue Perspektiven für die Erinnerungsarbeit, Göttingen 2023.
Gabriele Hammermann: Die KZ-Gedenkstätte Dachau – Zukunft der Erinnerung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 72 (2021), Heft 3/4, S. 125-144.
Jan-Holger Kirsch: Nationaler Mythos oder historische Trauer? Der Streit um ein zentrales „Holocaust-Mahnmal“ für die Berliner Republik, Köln u.a. 2003.
Volkhard Knigge (Hrsg.): Jenseits der Erinnerung - Verbrechensgeschichte begreifen. Impulse für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft, Göttingen 2022.
Habbo Knoch: Geschichte in Gedenkstätten. Theorie- Praxis - Berufsfelder, Tübingen 2020.
Lester J. Levine: 9/11 Memorial Visions. Innovative Concepts from the 2003 World Trade Center Site Memorial Competition, North Carolina 2016.
A. Dirk Moses: Der Katechismus der Deutschen. In: Geschichte der Gegenwart (2021), URL: https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/ (18.5.2025).
Kathrin Pieper: Die Musealisierung des Holocaust. Das Jüdische Museum in Berlin und das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. – ein Vergleich, Köln, Weimar, Wien 2006.
Amy Sodaro: Exhibiting Atrocity. Memorial Museums and the Politics of Past Violence, New Brunswick, New Jersey 2018, S. 84-110.
Harald Welzer: Für eine Modernisierung der Erinnerungs- und Gedenkkultur. In: Gedenkstättenrundbrief 162 (08/2011), S. 3-9.
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