Eine Klinge ritzt die Rinde ein und nach wenigen Sekunden quillt weißer Pflanzensaft aus der Wunde, um diese wieder zu verschließen. Die weiße Flüssigkeit, Latex genannt, enthält weniger als zehn Prozent Kautschuk.[1] Menschen machen sich diesen Umstand seit Jahrhunderten zu Nutze, um Naturkautschuk aus der Baumart Hevea brasiliensis zu gewinnen. Wie der Pflanzenname bereits erahnen lässt, stammt sie aus dem Amazonasbecken. Um an den eigentlichen Rohstoff zu gelangen, muss der Latex eingekocht werden. Das Ergebnis ist eine elastische, wasserundurchlässige Substanz, die bereits lange vor der Ankunft der Europäerinnen auf dem Kontinent für Gebrauchsgegenstände und Bälle genutzt wurde. Von dem autochthonen Begriff cahutchu leitet sich auch der deutsche Name des Stoffes, Kautschuk, ab.[2] Im Gegensatz zu den indigenen waren europäische Handwerker bis ins 19. Jahrhundert nicht in der Lage, Rohkautschuk ausreichend zu veredeln. Ihre Produkte, darunter die ersten Gummistiefel, besaßen nur eine geringe Toleranz bei Temperaturschwankungen. Bei Kälte wurden sie steif, bei großer Hitze schmolzen sie sogar. Abhilfe brachte erst die Vulkanisierung, wobei der Kautschuk in geschmolzenen Schwefel getaucht wurde. Das Verfahren ließen sich 1844 Charles Goodyear und Thomas Hancock unabhängig voneinander patentieren. Die langen Molekülketten des auf diesem Weg verarbeiteten Kautschuks wurden durch den Schwefel zu einem hitze- und kälteresistenten Makromolekül verbunden. Erst dieser Schritt ergab Gummi, der zusammen mit Stahl, Kohle und Benzin die Grundlage der zweiten Industrialisierung bildete.[3]
Vom Rad zum „Reifen“
Luft- und wasserdicht war der Gummi zugleich dehnbar bis auf seine dreifache Länge. Schläuche und Dichtungen trennten Gase und Flüssigkeiten in den ersten Verbrennungsmotoren. Zur Kraftübertragung kamen Transmissions- und später Keilriemen aus Gummi zum Einsatz, wo zuvor Tierleder verwendet worden war. Aber der Gummireifen sollte all diese Anwendungsbereiche übertreffen. Das Rad existierte seit Jahrtausenden, doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es neu erfunden. Reifen, also Rollflächen, aus Eisen besaßen kaum Profil und sie übertrugen Unregelmäßigkeiten von der Fahrbahn direkt auf das Fahrgestell. Für die Eisenbahn stellte dies kein Problem dar, doch abseits der Gleise waren Kutschen und Laufräder, Draisinen genannt, in ihrer Geschwindigkeit dadurch zusätzlich limitiert. Radbrüche bei hohem Tempo und auf schlechten Straßen stellten ein alltägliches Risiko dar. Die ersten Vollgummireifen hingegen dämpften die Erschütterungen, nutzten sich aufgrund ihrer Elastizität langsamer ab und verursachten geringere Schäden am Straßenbelag. Vulkanisierter Kautschuk konnte zudem in Formen mit Profil gegossen werden. Auf diese Weise produzierte Reifen konnten selbst jenseits der Straßen das Drehmoment in eine Vorwärtsbewegung übersetzen. In den 1880er und 1890er Jahren wurde dann der bis heute vorherrschende Luftreifen entwickelt. Dem Siegeszug von Fahrrädern, Traktoren, Last- und Personenkraftfahrzeugen stand nichts mehr im Wege. Diese Innovationen und ihr wirtschaftlicher Erfolg steigerten die Nachfrage nach Kautschuk in Nordamerika und Europa.
Wilder Kautschuk
Die Ökonomie des Naturkautschuks ähnelte derjenigen von Baumwolle und Zucker. Der pflanzliche Rohstoff wuchs nicht in den gemäßigten Breitengraden, wo er verarbeitet wurde. Über tausende Kilometer Eisenbahn- und vor allem Schifffahrtslinie wurde der Kautschuk aus den Tropen in die Fabriken transportiert. Um die Aufrechterhaltung dieser Warenketten zu garantieren, griffen die Europäerinnen auf eine alte Institution zurück: die Plantage. Auf den Plantagen arbeiteten bis ins 19. Jahrhundert Sklaven, um dann von schlecht bezahlten Lohnarbeiterinnen abgelöst zu werden. Auch diese Arbeiterinnen waren einer strengen Disziplin unterworfen und ihre Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt. Um 1900 befanden sich solche Pflanzungen meist im Besitz von Kapitalgesellschaften aus Europa oder Nordamerika.[4] Das System war erprobt und produktiv, doch die Umwelt schien die Anlage von Kautschukplantagen unmöglich zu machen. Der Pilz Microcyclus ulei befällt bevorzugt Kautschukbäume und entlaubt diese. Seine geringe Verbreitungsreichweite bewirkt, dass die Hevea-Bäume ohne menschliches Zutun in großen Abständen zueinander wachsen. Die Anlage von Plantagen eröffnete dem Pilz ein Überangebot potenzieller Wirtspflanzen. An diesem Umstand scheiterte beispielsweise das von Henry Ford 1927 in Brasilien initiierte Plantagenprojekt von Fordlândia.[5] In der Anfangszeit des Kautschukbooms lieferten brasilianische Zapferinnen Latex von Hevea-Pflanzen oder fällten Castilla elastica, eine andere Baumart, deren Milchsaft allerdings von minderer Qualität war.[6] 1876 schmuggelte Henry Alexander Wickham Kautschuksamen aus Brasilien nach England.[7] Doch das brasilianische Monopol endete nicht sofort. Wickhams Samen mussten erst aufgezogen, nach Südostasien transportiert, dort kultiviert und vermehrt werden. In den britischen und niederländischen Kolonien existierte kein Microcyclus-Pilz und so wurden Regenwälder auf Sri Lanka, Malakka und Indonesien gerodet, um Kautschukplantagen anlegen zu können. Das Kautschukmonopol Brasiliens fiel mit einer Verzögerung von über 20 Jahren.
Doch bevor asiatischer Kautschuk die Weltmarktpreise ab den 1920er Jahren erstmals sinken ließ, nutzte ein Herrscher die verbleibende Zeit für seine kolonialen Ambitionen. Der belgische König Leopold II. verfügte seit der sogenannten Kongokonferenz von 1885 über den Freistaat Kongo als seinen Privatbesitz. Die Wirtschaft der Region war kaum monetarisiert, weshalb Steuern nicht mit Geld, sondern mit Kautschuk bezahlt werden mussten. In den afrikanischen Tropen stammte der Latex von wildwachsenden Lianen.[8] Ohne eine ausgebaute Verwaltung übte der Monarch seine Macht durch die Kolonialtruppen der Force Publique aus. Staatlich festgelegte Erntequoten wurden von deren Soldaten gewaltsam eingetrieben. Zwischen 1896 und 1901 stieg der jährliche Kautschukexport von 100 auf 6.000 Tonnen. Die Profite aus den Kautschukverkäufen transferierte der König zurück nach Belgien. Der Raubbau und die eskalierende Gewalt lösten Fluchtbewegungen, Hunger und Krankheiten aus. Ab 1904 nahm die internationale Kritik an der Ausbeutungspolitik Leopolds II. zu, bis der Kongo‑Freistaat im Jahr 1908 zur belgischen Kolonie wurde. Der Fokus der Kolonialwirtschaft im Kongo verschob sich in der Folgezeit zugunsten des Bergbaus, auch da der Kautschukmarkt nun aus einer anderen Region versorgt wurde.[9]
Synthesekautschuk für den Sieg
Mit der Reife, der aus Wickhams Samen gezüchteten Pflanzen, verlagerte sich der Schwerpunkt der globalen Kautschukproduktion von Lateinamerika und Afrika nach Südostasien. Die ersten Verarbeitungsschritte des weißen Pflanzensafts fanden bereits vor Ort in integrierten Betrieben statt. Die Gummibäume konnten indes ganzjährlich angezapft werden und lieferten kontinuierlich den Rohstoff.[10] Der Gummi avancierte zur strategischen Ressource.
Im Verlauf des Ersten Weltkriegs wurde den militärischen Planern klar, dass sie ihre jeweilige Kriegswirtschaft mit Latex würden versorgen müssen, um mobil zu bleiben. Motorisierte Verbände erforderten Reifen, sowohl für die Kampf-, als auch für die Versorgungstruppen. Aber auch die Fahrwerke von Flugzeugen waren ohne belastbare Reifen nicht funktionsfähig. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden die europäischen Achsenmächte von der Kautschukversorgung abgeschnitten, da die Alliierten die Weltmeere kontrollierten. Als 1941/42 Japan weite Teile Südostasiens eroberte, mussten auch Großbritannien und die USA nach neuen Quellen für Gummi suchen. Auf den Kautschukmangel reagierten beide Seiten mit Bemühungen zur Wiederaufbereitung und Synthese von Gummi. So mussten Häftlinge im Buna-Werk des deutschen Lagers Auschwitz III Monowitz Synthesekautschuk herstellen. Eine weitere Option stellte die Suche nach pflanzlichen Alternativen zu H. Brasiliensis dar. In der Sowjetunion und in NS‑Deutschland wurde in den 1930er Jahren der Anbau von Kok-Saghyz, dem russischen Löwenzahn, zur Latexgewinnung untersucht und erprobt. Und auch in den USA wurde zwischen 1942 und 1944 dessen Anbau getestet.[11] Auch wenn über das Kriegsende 1945 hinaus Synthesewerke für Gummi in Betrieb blieben und seit den 2000ern wieder über Ersatzpflanzenarten diskutiert wurde: Noch heute stammt das Material für Ihre Autoreifen teilweise von Plantagen aus Südostasien.
Ein Beitrag von Sven Seelinger
Bilder (letzter Zugriff jeweils am 30.04.2021):
*W. Gorden Whaley and John S. Bowen Image courtesy of Ford Motor Co., Public domain, via Wikimedia Commons
File-URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/16/Taraxacum_kok-saghyz.png (externer Link).
Page-URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Taraxacum_kok-saghyz.png (externer Link, letzter Zugriff 18.05.21)
**Library of Congress / Public domain https://www.loc.gov/pictures/item/98514879/ (externer Link).
Fußnoten (inkl. externer Links, letzter Zugriff jeweils am 18.05.2021):
[1] Vgl. Mann, Charles C.: Kolumbus' Erbe. Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen, Hamburg 4 2014, S. 385.
[2] Luff, B. D. W./Schmelkes, Franz C.: Die Chemie des Kautschuks, Heidelberg 1925, S. 1.
[3] Vgl. Mann, Charles C.: Kolumbus' Erbe, S. 391 – 401.
[4] Vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München6 2011, S. 971.
[5] Vgl. Mann, Charles C.: Kolumbus' Erbe, S. 431f.
[6] Vgl. Ebd. S. 413.
[7] Vgl. Ebd. S. 425 – 429.
[8] Vgl. Deutsches Kolonial-Lexikon (1920), Band II, S. 250f., abgerufen am 30.04.2021 http://www.ub.bildarchiv- dkg.uni-frankfurt.de/Bildprojekt/Lexikon/K/Kautschuk.html.
[9] Vgl. Van Reybrouck, David: Kongo. Eine Geschichte, Berlin 2013, S. 113 – 124.
[10] Vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, S. 972.
[11] Vgl. Whaley, W. Gordon: Russian Dandelion (Kok-Saghyz). An Emergency Source of Natural Rubber, Washington 1947, S. III.
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