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Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!

Anlässlich des Gedenkens an den 8. Mai 1945 und die Befreiung Tübingens


Tübingen, 21.4.45

„Jetzt jagen sich die kleinen und großen Ereignisse, die Gerüchte, Greuelgeschichten [sic] – wahre und unwahre – und ich halt es nicht mehr aus, Liebster, ohne Dir zu schreiben. […] Die Besetzung Tübingens erfolgte am 19.4., und nun haben wir also die ersten 3 – sicher schwersten – Tage hinter uns. Wenn ich es dir nur schreiben könnte, wenn du es nur irgendwie erfahren wolltest, daß [sic] wir alle bisher noch sehr gut über das ganze hinwegkamen, dass Tübingen eine der ganz wenigen Städte ist, die bis auf ganz geringe Schäden in den letzten Tagen […] bis zu diesem Punkt der Besetzung gekommen ist.“[1]


Dieser Ausschnitt entstammt dem Brief einer Tübingerin, den sie kurz nach der Befreiung an ihren Mann schrieb. Von ihrer Wohnung in der Herrenbergerstraße aus sah sie am Morgen des 19. Aprils die französischen Panzer in die Stadt einfahren.[2] Die im Vergleich zu anderen süddeutschen Städten geringe Zerstörung und die kampflose Besetzung Tübingens war mehreren glücklichen Umständen und Zufällen zu verdanken.

 

Die drohende Niederlage

Auch in Tübingen zeigte sich die drohende Niederlage des Deutschen Reiches immer deutlicher.

Reichsweit mangelte es an Lebensmitteln, sodass der Kaloriengebrauch der Tübinger Bevölkerung in den letzten Kriegsmonaten auf die Hälfte reduziert wurde. Auch an Möbeln, Haushaltwaren und Kleidung fehlte es zunehmend. Der städtische Wohnraum wurde aufgrund der Kriegszerstörungen sowie der unkoordinierten Zuleitung von mehreren Tausend Evakuierten und Geflüchteten aus verschiedensten Teilen des Reiches knapp.[3]

Um die kriegerische Niederlage doch noch abzuwenden, wurden nun alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren zum „Deutschen Volkssturm“ eingezogen. Ihre Vereidigung auf dem Universitätssportplatz sollte eine der letzten nationalsozialistischen Propagandaveranstaltungen in Tübingen werden. Dort mussten sie versprechen, für die Heimat zu kämpfen und lieber zu sterben, als die Zukunft ihres Volkes preiszugeben.[4] Die vier- bis fünftausend Männer, die in Tübingen zusammenkamen, hatten insgesamt 300 Gewehre zur Verfügung.[5] In der Bevölkerung scherzte man, dass in dieser Truppe ohne Uniform und ohne Waffen der Älteste die goldene Hochzeit hinter sich und der Jüngste ein Neukonfirmierter sei.[6] Auch Frauen wurden zum „Hilfsdienst für den Volkssturm“ einberufen, um in Luftschutz, Flugabwehr und Nachrichtendienst in den Kriegsgebieten zu arbeiten. Die meisten Tübingerinnen nahmen die Plätze ihrer Männer in Landwirtschaft, Fabriken und Büros ein, waren tätig als Schaffnerinnen, Krankenschwestern und Feuerwehrfrauen. [7]

 

Am wahrscheinlich unmittelbarsten spürten die Tübinger:innen die bedrohliche Entwicklung an dem sich verschärfenden Luftkrieg. Im Jahr 1943 gab es einen Angriff auf die Stadt, 1944 waren es acht und in den letzten dreieinhalb Kriegsmonaten wurde Tübingen rund zehnmal angegriffen. Fliegeralarm ertönte an manchen Tagen zwei- oder dreimal. Da sich Kasernen, Bahnanlagen und Industrien auf der Südseite des Neckars befanden, galten die Angriffe fast durchweg diesem Gebiet. Unter der Bombardierung waren Transportwesen und Energieversorgung weitgehend zusammengebrochen. Daraufhin führte die Stadtverwaltung Sperrstunden ein, um den Gasverbrauch zu drosseln und forderte die Bevölkerung auf, sich durch das Sammeln von Leseholz in Wäldern selbst zu helfen. [8]

 

Dieses Video aus dem Mai 1945 zeigt die Zerstörungen in und um Tübingen. Aufnahme durch US-Truppen. (C) by Trolley-Mission, CC-Lizenz laut Videounterschrift: Zur Verbreitung freigegeben. 

Bitte wechseln Sie auf YouTube, um das Video anzusehen.

Auch die Vorschriften wurden nun strenger. Die Beleuchtung auf den Tübinger Straßen wurde bis auf kleine Richtungslampen ausgeschaltet und in den Wohnungen sollten spezielle Verdunklungsvorhänge aufgehängt werden, um vor nächtlichen Luftangriffen zu schützen. Viele Tübinger:innen hatten ihre Häuser „luftschutzmäßig“ durch befestigte Keller, Ausstiege nach außen und Durchbrüchen zu den Nachbarshäusern umgebaut. Auch der öffentliche Bau von Bunkern wurde vorangetrieben und betraf in der Innenstadt den Bereich von Bursagasse bis zum Holzmarkt, vom Stiftsgarten bis zur Haaggasse und bei der Neckarbrücke in den Österberg hinein. Im Vergleich zu anderen süddeutschen Städten wie Stuttgart, Freudenstadt oder Pforzheim war Tübingen jedoch weniger Zielscheibe von Luftangriffen. Dies lag zum einen daran, dass Tübingen keine Flugabwehr besaß und zum anderen an den vielen Lazaretten, die über das gesamte Stadtgebiet nördlich des Neckars verteilt waren.[9]

 

Tübingen als Stadt der Lazarette

Im Lauf der Kriegsjahre war Tübingen mit seinen vielen Universitätskliniken zu einer Stadt der Lazarette geworden. Während Tübingen zu Beginn des Krieges noch mit drei Bataillonen militärisch eingebunden war, reduzierte sich dies auf nur ein Ersatzbataillon Anfang des Jahres 1945. Zugleich wurde der Zustrom von Verwundeten immer stärker, sodass sich die Zahl der Lazarette durch Heranziehung von Universitätsinstituten, ehemaligen Kasernen, Schulen und Studentenhäusern stetig vergrößerte.[10] 6000 Verwundete waren mittlerweile stationär in der Stadt untergebracht. Dies führte dazu, dass sich der Standortarzt Dr. Theodor Dobler beim Generalkommando in Stuttgart mehrmalig darum bemühte, dass die Stadt zu einer „Lazarettstadt“ erklärt und damit unter den Schutz der Genfer Konventionen gestellt würde. Zwar misslang die Anerkennung als Lazarettstadt, doch durften schließlich weite Teile der Stadt als Lazarettbezirke gekennzeichnet werden.[11]

 

Die Befreiung Tübingens

Als sich französische Armeen vom Schwarzwald und dem Donautal sowie die amerikanische Armee aus Crailsheim näherten, bekam Tübingen unerwartet eine strategische Bedeutung. Die Verteidigung der Stadt schien notwendig, um die Truppenzusammenführung zur Albverteidigung gewährleisten zu können.[12] Daraufhin überstürzten sich die Ereignisse:

Am Mittag des 18. April schickte Dr. Dobler, ohne die militärischen Kommandeure zu informieren, zwei Sanitätsoffiziere zu dem bereits bei Wurmlingen stehenden französischen General, um die kampflose Übergabe Tübingens anzukündigen. Die Beschießung der Stadt sowie ein vorbereiteter Luftangriff wurden daraufhin abgesagt. [13]

Unterdessen aber traf am Abend des gleichen Tages der Befehl des Gauleiters ein, dass Tübingen ohne Rücksicht auf die Lazarette zu verteidigen sei. In Vorbereitung darauf wurden sämtliche Neckarübergänge gesprengt und zwei Verteidigungskompanien aus Reutlingen in Marsch gesetzt. In der Nacht kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den militärischen Kommandeuren und Dr. Dobler auf der NSDAP-Kreisleitung in der Wilhelmstraße 24.[14] Schließlich war es Zufällen zu verdanken, dass die Stadt nicht doch, wie am Ende der Besprechung beschlossen wurde, verteidigt wurde. Denn als die Reutlinger Truppen am nächsten Morgen zur Verteidigung in die Stadt einfuhren, hatten die französischen Truppen, die früher als erwartet aufgebrochen waren, Tübingen bereits kampflos besetzt. [15]

 

Kriegsende in Tübingen

Für Tübingen war der Krieg am 19. April 1945 zu Ende, drei Wochen ehe die deutsche Regierung vollends kapitulierte. Die meisten Tübinger:innen erlebten den Einmarsch der Franzosen mit gemischten Gefühlen. Sie registrierten erleichtert, dass die Kriegshandlungen beendet waren, doch begegneten den französischen „Besetzern“ zumeist erst einmal abwartend und verunsichert.[16] Auch wenn die Herrschaft des Nationalsozialismus von nun an in Tübingen beendet war - Abschied genommen von der nationalsozialistischen Ideologie hatten zu diesem Zeitpunkt längst nicht alle.

 

Der Tag der Befreiung als Gedenktag

In einigen europäischen Ländern wird der 8. Mai heute als Tag der Befreiung gefeiert. Zugleich bedeutet dies das Gedenken an die Verfolgten und Ermordeten des deutschen Faschismus und des Kriegs. Auch in Tübingen haben nicht nur die Kriegshandlungen Spuren in der Stadt hinterlassen, sondern ebenso die Gräueltaten des Nationalsozialismus. Die Tübinger Juden und Jüdinnen emigrierten oder wurden nach Riga, Auschwitz und Theresienstadt deportiert; Tübinger:innen wurden aufgrund ihrer Behinderung oder Erkrankung in der Tötungsanstalt Grafeneck bei Reutlingen ermordet[17] und zahlreiche Antifaschist:innen wurden nur wenige Tage nach Machtergreifung ins KZ Heuberg auf der Schwäbischen Alb verschleppt und drangsaliert. [18]

 

Bald wird es keine Überlebenden und Miterlebenden des deutschen Faschismus und des Krieges mehr geben. Die Verantwortung liegt nun bei den nachfolgenden Generationen, die Erinnerung zu wahren und lebendig zu halten – nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg.

 

 

Ein Beitrag von Marleen Buschhaus 


Literatur:

Schönhagen, Benigna: Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1991.

Werner, Hermann: Tübingen 1945. Eine Chronik, Stuttgart (neu hrsg. von Manfred Schmid) 1986.

Geschichtswerkstatt Tübingen (Hrsg.): Zerstörte Hoffnungen – Wege der Tübinger Juden, Stuttgart 1995.

 

Quellen:

Liste über Schutzhäftlinge des Polizeidirektionsbezirks Tübingen vom 21.04.1933, Tübinger Stadtarchiv.

Auszug aus Opferdatenbank der Tötungsanstalt Grafeneck.

Tübinger Chronik/Neues Tübinger Tagblatt vom 13.11.1944.

 

Fußnoten:

[1] Waltraud Balbarischky an Hermann Werner, 21.04.1945, zitiert nach: Werner, S. 185.

[2] Ebd.

[3] Vgl. Werner, S. 35.

[4] Vgl. Tübinger Chronik/Neues Tübinger Tagblatt vom 13.11.1944.

[5] Vgl. Werner, S. 24.

[6] Ebd.

[7] Vgl. Werner, S. 42

[8] Vgl. Schönhagen, S. 370/Vgl. Werner, S. 27 ff. + S. 35 f.

[9] Vgl. Werner, S. 32.

[10] Werner, S. 49.

[11] Vgl. Schönhagen, S. 371.

[12] Schönhagen, S. 371 f.

[13] Vgl. Werner, S. 58.

[14] Vgl. Schönhagen, S. 371 f.

[15] Ebd.

[16] Vgl. Schönhagen, S. 372 f.

[17] Auszug aus Opferdatenbank Grafeneck.

[18] Liste über Schutzhäftlinge des Polizeidirektionsbezirks Tübingen vom 21.04.1933.


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