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„Nebenan. Die Nachbarschaften der Lager Auschwitz I-III.“ Eine dokumentarische Fotoausstellung.


Die Kamera fokussiert auf einen kleinen Sandkasten. Er ist gefüllt mit rosa und grünen Eimerchen und allerlei Spielzeug, als hätte eben ein Kind aufgehört, darin zu spielen. Neben dem Sandkasten krümmt sich ein knorriger Baum mit abgeschnittenen Ästen. Das Gärtchen ist umgeben von einem rostigen Zaun. Im Hintergrund ist unscharf ein mittelhoher Wachturm zu erkennen, er passt nicht so ganz in das Bild. Das Foto wurde im polnischen Brzezinka aufgenommen. Der Turm gehörte zum deutschen Vernichtungslager Birkenau/Auschwitz II, das die Nationalsozialisten 1941 in unmittelbarer Nähe zum Stammlager Auschwitz I errichten ließen. 


Der Blick durch den Türrahmen lässt den Blick durch das Fenster (außen zu sehen ist das Tor des ehemaligen Stammlagers Auschwitz) beinahe real erscheinen. Das Bild entstand in einer Wohnung einer langjährigen Mitarbeiterin des Museums. Bild: Mia Paulus.
Der Blick durch den Türrahmen lässt den Blick durch das Fenster (außen zu sehen ist das Tor des ehemaligen Stammlagers Auschwitz) beinahe real erscheinen. Das Bild entstand in einer Wohnung einer langjährigen Mitarbeiterin des Museums. Bild: Mia Paulus.

Die Alltäglichkeit des Bildes, das nur eines von 56 Fotografien der Fotoausstellung „Nebenan. Die Nachbarschaften der Lager Auschwitz I-III“ ist, erschüttert. Die Nachbarschaft von Leben und Tod trifft in der Gegend von Oświęcim, zu Deutsch Auschwitz, auf brutale Weise aufeinander. Dieses Nebeneinander einzufangen war das Ziel der Stuttgarter Fotografen Kai Loges und Andreas Langen, die gemeinsam das Kollektiv die arge lola bilden. Zwischen 2012 und 2017 bereisten sie die Umgebung des ehemaligen Lagerkomplexes Auschwitz I-III, bestehend aus dem Stammlager Auschwitz, dem Vernichtungslager Birkenau und dem kleinen, kaum bekannten Arbeitslager Monowice der IG Farben. Lediglich ein Foto, das im Stammlager aufgenommen wurde, ist in der Ausstellung zu sehen. Gezielt richteten die Fotografen ihre Kameras auf das, was außerhalb, was neben den ehemaligen Lagerstätten liegt.

 

Zu sehen ist die Ausstellung derzeit im Museum für Alltagskultur in Waldenbuch. Davor war sie bereits im Jüdischen Museum in Creglingen ausgestellt.

Wie sieht das Leben neben einer ehemaligen Vernichtungsstätte aus? Wie lassen sich das Grauen der Vergangenheit und der Blick in die Zukunft vereinbaren? Diese und weitere Fragen wirft die Ausstellung auf. Dabei lässt sie vor allem die Bilder selbst sprechen, nur kurze Bildbeschreibungen geben dem*der Betrachtenden einige Hintergrundinformationen. Während ihrer Recherchereisen unterhielten sich die Fotografen mit Zeitzeug*innen und Anwohner*innen. Deren Perspektiven und Geschichten sind neben den Fotografien der zweite Pfeiler der Ausstellung. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Jan Tobias und Jan Kasperczyk, beide geboren im Dorf Brzezinka in den 1930er Jahren. 1941 wurde Brzezinka von den Nationalsozialist*innen zwangsgeräumt. Die polnischen Einwohner*innen wurden vertrieben, die dort lebenden Jüdinnen und Juden ermordet. Die Besatzer*innen rissen die leeren Häuser ab, um mit dem Material das Vernichtungslager Birkenau zu errichten. An die Geschichte der Vertreibung und Ermordung der Bewohner*innen von Brzezinka erinnern heute zwei schwarze Steintafeln vor dem Tor des ehemaligen Lagers.

 

Oświęcim ist heute Wohnort, Gedenkstätte und Tourismusmagnet zugleich. Im Jahr 2018 besuchten über zwei Millionen Menschen das ehemalige Vernichtungslager.[1] Auch diese Dimension spiegelt sich in der Ausstellung wider. So befinden sich direkt vor dem Haupttor des ehemaligen Stammlagers Cafés und sogar Souvenirläden. Vom ehemaligen Arbeitslager Monowice dagegen ist fast nichts mehr erhalten. Die letzte noch stehende Häftlingsbaracke, die durch Alter und Witterung stark verfallen ist, wird heute bewohnt. Bitterer Pragmatismus – auch das ist eine Realität vor Ort. Nach 1945 kehrten die Vertriebenen nach Brzezinka zurück und errichteten ihre 1941 zerstörten Häuser mit Ziegeln aus den ehemaligen Lagergebäuden, die aus dem Schutt ebendieser Wohnhäuser erbaut worden sind. 

 

Ein unscheinbarer Garten, weiße Wäsche – dahinter erhebt sich nach 500 Metern bebauungsfreier Zone das Haupttor des Stammlagers Auschwitz. Foto: Mia Paulus.
Ein unscheinbarer Garten, weiße Wäsche – dahinter erhebt sich nach 500 Metern bebauungsfreier Zone das Haupttor des Stammlagers Auschwitz. Foto: Mia Paulus.

In der ehemaligen SS-Kommandantur des Stammlagers, die den Schriftzug „Kommandantur“ noch immer über der Eingangstür trägt, wohnen heute langjährige Mitarbeiter*innen des Staatlichen Museums Auschwitz sowie internationale Wissenschaftler*innen. Dieser Pragmatismus zieht sich programmatisch durch die Bilder der Ausstellung – und er irritiert. Aber er ist auch eine Erklärung dafür, wie die Nachbarschaften des Lagerkomplexes Auschwitz I-III wieder belebt werden konnten.

 

Wie prägt die komplexe Schreckensgeschichte des Ortes die Anwohner*innen heute? Die Schule von Brzezinka ist ein lebendiger Ort. Zwei Gedenktage spielen eine zentrale Rolle im Alltag der Schüler*innen. Am 27. Januar wird die Befreiung von Auschwitz festlich begangen, jedes Jahr kommen Überlebende des Lagers an diesem Tag zu Besuch in die Schule. Eine von ihnen ist Lidia Skibicka-Maksymowicz, die 1944 nach Birkenau deportiert wurde. Nach der Befreiung lebte sie weiter in Oświęcim, in unmittelbarer Nähe zum Vernichtungslager. Der zweite Gedenktag im Jahr ist der 22. April, der Tag, an dem 1941 die Dorfbewohner*innen aus Brzezinka von den Deutschen vertrieben und ermordet wurden. Heute wird an diesem Datum die Fahne der Schule von drei Schüler*innen vor das „Todestor“ von Birkenau getragen. Die eine Seite zeigt die polnischen Nationalfarben, die andere Seite wurde aus Häftlingsuniformen genäht.

 

Am Ende der Ausstellung ist eine Karte von Baden-Württemberg zu sehen, darauf markiert sind die ehemaligen KZs in der Region. Sie lädt zum Reflektieren ein – über das Nebenan von Leben und Tod ganz in der Nähe, die Überlagerungen von Geschichte und Gegenwart hier vor Ort. Und sie ist eine Einladung zum selbstständigen Erforschen der eigenen Nachbarschaft.

 

Zu empfehlen ist die Führung mit dem Fotografen selbst, die Einblicke in den Arbeitsprozess sowie die Begegnungen mit Zeitzeug*innen und Einwohner*innen gibt. Diese wird jeden Sonntag angeboten. Begleitend zur Ausstellung ist außerdem 2021 ein Bildband erschienen, der im Museum erworben werden kann.[2]

 

Ein Beitrag von Mia Paulus


Daten im Überblick:

Museum: Museum für Alltagskultur, Waldenbuch

Ausstellung: „Nebenan. Die Nachbarschaften der Lager Auschwitz I-III.“

Zeitraum: 26. November 2021 – 08. April 2022

Kontakt: Schloss Waldenbuch, Kirchgasse 3, 71111 Waldenbuch

Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag, 10 - 17 Uhr, Sonn- und Feiertag, 10 - 18 Uhr, montags geschlossen, außer an Feiertagen

Preise: Erwachsene 4€/ermäßigt 3€/Kinder bis 18 Jahre frei/Mittwoch ab 14 Uhr: Pay what you want!

 

Link zur externen Homepage: https://www.museum-der-alltagskultur.de/ausstellungen/sonderausstellung-nebenan [letzter Aufruf am 30.03.2022].


Fußnoten: 

[1] https://auschwitzundich.ard.de/projekt/informationen-fuer-besucher-der-gedenkstaette.html [letzter Aufruf am 30.03.2022].

[2] Loges, Kai/Langen, Andreas: Nebenan. Die Nachbarschaften der Lager Auschwitz I-III. Stuttgart 2021.

 

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