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Tübinger Erinnerungspolitik - das Pogrom 1938

Im Jahr 1938 nahm die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Deutschland ein neues, grausames Ausmaß an.[1] Nach Jahren der Diskriminierung, anhaltender Hetze und Terror kam es in der Nacht vom 9. auf den 10. November zum Exzess. Zahllose Menschen wurden getötet und misshandelt, ihr Eigentum zerstört und ihre Gotteshäuser in Brand gesteckt. Auch die Tübinger Synagoge brannte in dieser Nacht. 

 

8. November 1938 - „Tübinger Chronik“

Jüdisches Attentat in der Pariser Deutschen Botschaft. Der Legationssekretär von (sic!) Rath ist von einem Juden niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt worden. Jüdische Mordbanditen.“[2]

 

Am 7. November 1938 schoss der 17-jährige polnische Jude Herschel Grynszpan zweimal auf den Legationsrat Erich vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris. Als „Vergeltungsschlag“ kam es an einigen Orten in Deutschland zu ersten Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden. Als vom Rath zwei Tage später seinen Verletzungen erlag, nahm Reichspropagandaminister Joseph Goebbels dies zum Anlass für eine anti-jüdische Hetzrede. Sein kaum verdeckter Aufruf zur Tat wurde an die Gauleitungen überall in Deutschland weitergeleitet. Damit begannen die reichsweiten Aktionen der Pogromnacht, an denen sich Mitglieder der NSDAP, SA und SS, aber auch Zivilistinnen und Zivilisten beteiligten.

 

Bild: Lisa Blum.
Bild: Lisa Blum.

In Tübingen erhielt der örtliche NSDAP-Kreisleiter Hans Rauschnabel einen Anruf von der Stuttgarter Gauleitung, die ihn mit der Zerstörung der Synagoge beauftragte. Rauschnabel trommelte wiederum drei seiner untergeordneten Parteigenossen zusammen. Mit genügend Brennstoff ausgestattet kamen die Brandstifter um drei Uhr morgens in der Gartenstraße an. Dort fanden sie die Synagoge bereits demoliert vor: Das Gotteshaus war zuvor von einer Gruppe geplündert und zerstört worden, die Torarollen hatten sie in den Neckar geworfen. Nach zwei Versuchen brannte das Gebäude lichterloh. Die Feuerwehr, die man absichtlich zu spät benachrichtigte, wurde von Rauschnabel dazu angehalten, nur die benachbarten Häuser zu schützen. In dieser Nacht blieben die Tübinger Jüdinnen und Juden von weiteren Exzessen verschont – zu diesem Zeitpunkt existierte bereits kein einziges jüdisches Geschäft mehr in der Stadt.

 

Die Geschehnisse blieben jedoch nicht ohne bittere Folgen. In den Tagen nach den Pogromen wurden fünf Mitglieder der jüdischen Gemeinde durch die örtliche Gestapo verhaftet und, mit einer Ausnahme, nach Dachau verschleppt. Einer von ihnen überlebte die Strapazen und Misshandlungen des Konzentrationslagers nicht. Innerhalb weniger Monate flohen 28 Tübinger und Tübingerinnen jüdischen Glaubens aus Deutschland. Der verbleibende Teil der einst 90-köpfigen, lebhaften Gemeinde musste selbst für den Abbruch der Ruinen ihres Gotteshauses aufkommen. Als nichts mehr an das alte Gebäude erinnerte, wurde das Grundstück 1940 schließlich völlig unter Wert an die Stadt Tübingen veräußert und fortan nur noch als „Ziergarten“ bezeichnet.

Nach Ende des Krieges ging der „Ziergarten“ in den Besitz der Alliierten über, die ihn an die jüdische Vermögensverwaltung JRSO weitergaben, die das Grundstück 1949 an die Israelitische Kultusgemeinde Stuttgart überschrieb. Schließlich erwarb ein Tübinger Kaufmann den alten Standort der Synagoge und errichtete darauf ein Einfamilienhaus. Doch obwohl die Ruinen der Synagoge längst unter der Erde verschwunden waren, wurde die Erinnerung an sie durch einige Tübinger und Tübingerinnen nach einigen Jahren wiederbelebt.

10. November 1958 - Leserbrief im Schwäbischen Tagblatt von Hans Geißer

Heute am 10. November vor 20 Jahren sind wir als zehnjährige Tübinger Schulbuben in die Gartenstraße gezogen, um die rauchenden Trümmer der Synagoge anzusehen. Ein paar uniformierte Feuerwehrleute standen noch dort und besprengten symbolisch die Reste des Brandes. Warum standen gestern nicht wieder einige Vertreter der öffentlichen Ordnung an jener Stätte, um zu versuchen, einen noch immer schwelenden Brand einzudämmen? Heute wäre dies nicht zu spät wie einst."[3]

 

Diese Forderung nach einem angemessenen Gedenken schickte Hans Geißer, Theologe am Evangelischen

Stift in Tübingen, auch persönlich an den damaligen Bürgermeister Hans Gmelin. Dieser setzte

Geißers Kritik sofort auf die Tagesordnung des Stadtrates, um zu klären, inwieweit die Stadt für „solche[r] Feiern“[4] verantwortlich wäre. Gmelin erklärte schnell, „dass es nicht Aufgabe einer Stadtverwaltung sei, bildende und erziehende Feierstunden für die Bevölkerung zu veranstalten“[5]. Auch die einzelnen Fraktionsvorsitzenden des Stadtrates stimmten ihm in dieser Hinsicht zu. Man wollte nicht, dass früheres Unrecht auf kommenden Generationen laste – und außerdem sei die Stadtverwaltung mit der Aufarbeitung eines solch tief schürfenden und essentiellen Problems überfordert. So wies man jegliche Verantwortung von sich, verhinderte erfolgreich eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und verweigerte knapp 90 ehemaligen Tübingern und Tübingerinnen ein würdiges Gedenken an ihr Schicksal.

 

Einziges Ergebnis dieser kurzweiligen Diskussion blieb ein Antrag der CDU-Fraktion für eine Gedenkplatte, die zum folgenden Jahrestag im Rahmen einer Gedenkstunde dort angebracht werden sollte. Dieses Vorhaben scheiterte am Einspruch des damaligen Grundstücksbesitzers. Dieser forderte, man solle ihn und sein Heim endlich in Frieden lassen. Der „Friede“ währte bis zum 25. Jahrestag der Pogromnacht. Zu diesem Anlass veranstaltete der AStA der Universität einen Schweigemarsch mit anschließender Gedenkfeier; Treffpunkt war in der Gartenstraße beim früheren Standort der Synagoge.

Bild: Lisa Blum.
Bild: Lisa Blum.

Bedauerlicherweise blieb diese Veranstaltung eine von wenigen, auf bürgerlicher Initiative gründenden Versuchen, an die Geschehnisse vom 9. November 1938 zu erinnern. Nach jahrzehntelangem Ringen und privaten Anstrengungen der „Initiative 9. November – 40 Jahre ‚Reichkristallnacht‘“ ließ die Stadt 1978 eine Gedenkinschrift am sogenannten Lützelbrunnen auf dem Platz der ehemaligen Synagoge anbringen. Sie lautete: „Hier stand die Synagoge der Tübinger jüdischen Gemeinde. Sie wurde in der Nacht vom 9./10. November 1938 wie viele andere in Deutschland niedergebrannt.“ Es hagelte scharfe Kritik: Die Täter, Opfer und der Grund für die Brandstiftung waren nicht erwähnt. Nach vehementen Protesten ergänzte man den Text um den Satz „Zum Gedenken an die Verfolgung und Ermordung jüdischer Mitbürger in den Jahren 1933–1945“.

 

Als im Jahre 1995 Pläne bekannt wurden, das alte Haus abzureißen, wurden viele Gegenstimmen laut. Trotzdem begann man drei Jahre später mit der Errichtung eines großen Mehrfamilienhauses mitsamt Tiefgarage. Als man im Zuge der Bauarbeiten auf Fundamentreste der Synagoge stieß und der Bauträger einen Teil der Steine entfernen ließ, empörten sich viele Tübingerinnen und Tübinger. Es stellte sich erneut die Frage, wie man der ehemaligen jüdischen Bevölkerung Tübingens und ihres Gotteshauses gedenken könnte. Schließlich wurde auf dem umgestalteten und neu benannten Synagogenplatz an der Ostseite des Hauses ein Denkmal errichtet. Man findet in der Gartenstraße nun einen durchlöcherten Stahlkubus – die insgesamt 101 Öffnungen stehen für die durch die Nationalsozialisten vertriebenen oder ermordeten jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen Tübingens. 

Einige Menschen, deren Namen in der Gedenkstätte verewigt sind, könnten sogar bei der Einweihung der Synagoge im Jahre 1882 zugegen gewesen sein. Beim Festakt seinerzeit hatte der Mühringer Bezirksrabbiner Dr. Michael Silberstein davon gesprochen, dass in Tübingen ein „heller, lichter Geist, der Geist des gegenseitigen Wohlwollens, der Achtung, der Duldung herrscht und waltet".[6] Heute erzählt dieser Ort eine andere Geschichte, heute liest man die Informationstafeln über die lebendige Gemeinde und ein friedvolles Miteinander mit Wehmut. Denn das Denkmal erinnert doch immer an das unfassbare Unrecht, das diesen Menschen widerfuhr. Und dass es mitunter nur wenige Jahre dauert, bis ein solcher „heller, lichter Geist"[7] im Keim erstickt ist.  

Ein Beitrag von Lisa Blum

Quellen zu diesem Text


Fußnoten:

[1] Der Beitrag konzentriert sich auf die Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens in der Zeit des Nationalsozialismus. Dass in dieser Zeit auch viele andere gesellschaftliche Gruppen wie Homosexuelle, POC, Roma/Romnja, Sinti/Sintize, Angehörige der Glaubensgemeinschaft „Zeugen Jehovas“ Opfer nationalsozialistischer Gewalt wurden, wollen wir hiermit ausdrücklich erwähnen.

[2] Schönhagen 1991, S. 293.

[3] Lang 2007, S. 102.

[4] Lang 2007, S. 101.

[5] Ebd.

[6] Krüger 2007, S. 482.

[7] Ebd.

 

Literatur: 

Hahn, Joachim: Orte und Einrichtungen. In: Schmidt, Rüdiger (Hrsg.): Synagogen in Baden-Württemberg, Bd. 2. (Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland 4), Stuttgart 2007.

Krüger, Jürgen: Geschichte und Architektur. In: Schmidt, Rüdiger (Hrsg.): Synagogen in Baden-Württemberg, Bd. 1. (Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland 4), Stuttgart 2007.

Lang, Hans Joachim: Tübingen nach dem Holocaust. Wie sehr die Stadt ihre Juden vermisste. In: Binder, Hans-Otto (Hrsg.): Die Heimkehrertafel als Stolperstein. Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit in Tübingen, Tübingen 2007, S. 95–114.

Schönhagen, Benigna: Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Tübinger Geschichte 4), Tübingen 1991.

Geschichtswerkstatt Tübingen (Hrsg.): Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden (Beiträge zur Tübinger Geschichte 8), Stuttgart 1991.

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