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Kolonialismus im Klassenzimmer

Lesezeit ca. 5 Minuten


Nach Unterzeichnung des Versailler Vertrags ‚verlor‘ Deutschland offiziell alle seine Kolonien. Was aber nicht hieß, dass Kolonien in Deutschland kein Thema mehr waren – im Gegenteil: Kolonialausstellungen, Kolonialforschung und Kolonialvereine (Von Tübingen in die Welt? Eduard Haber und der Kolonialrevisionismus, Tübingen und die Stuttgarter Kolonialwoche 1928) gewannen in den 1920er Jahren an Bedeutung und erreichten viele Menschen in ihrem Alltag. 


Bild: Sarah Huber/ Stadtarchiv Reutlingen, Ausschnitt.
Bild: Sarah Huber/ Stadtarchiv Reutlingen, Ausschnitt.

Fundstücke im Archiv

Diese Themen wurden nicht nur auf dem politischen Parkett verhandelt, es kam auch gesellschaftlich zur Auseinandersetzung mit den ehemaligen Kolonien. Ein Blick in das Reutlinger Stadtarchiv (externer Link) zeigt, dass die Themen Kolonialismus und Kolonialrevisionismus Auswirkungen bis in die Schulen und den Unterricht hatten – vor allem zur Zeit des Nationalsozialismus.

 

Geschichtsunterricht zur Weimarer Zeit

Doch schon zuvor wurde das Thema im Rahmen der Schule in den Blick genommen. In der Weimarer Republik war der „Verlust der Kolonien“ eines der beliebtesten Aufsatzthemen im Geschichtsunterricht.[1] Fragestellungen lauteten:

 

-          „Warum brauchen wir Kolonien?

-          Deutschlands Recht auf seine Kolonien.

-          Die Bedeutung von Überseekolonien für die Deutsche Zukunft. (Abitur 1929)

-          Warum kämpfen wir für die Rückgabe der Kolonien?

-          Die Kulturbedeutung der weißen Rasse.

-          Warum bedauern wir besonders den Verlust unserer Kolonien?

-          Die Bedeutung von Kolonien für eine moderne Großmacht.

-          Die Kolonien – eine Lebensnotwendigkeit für Deutschland.

-          Deutsches Heldentum in den Kolonien.“[2]

 

Auch der Erdkundeunterricht bezog sich in vielen Bereichen auf die Grundlagen, die bezüglich der Kolonien im Geschichtsunterricht gelegt wurden.[3]

1925 lehnte es die Ministerialabteilung für die höheren Schulen in Stuttgart ab, Kolonialvorträge des Jugendausschusses der Kolonialen Arbeitsgemeinschaft zur Pflicht zu machen – unter Hinweis auf die Arbeit, die Schulen im Regelunterricht „für die Wiedererweckung und Stärkung des kolonialen Gedankens unter der Schuljugend leistet“[4]. Die Räumlichkeiten der Schule wurden außerhalb des Schulbetriebs zur Verfügung gestellt und der freiwillige Besuch durch Schüler[5] erlaubt.

 

 

Die NSDAP und der Kolonialismus

 

In ihrem 25-Punkte-Programm von 1920 forderte die NSDAP unter Punkt drei: „[…] Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses“[6].

Adolf Hitler änderte später seine Sicht auf Kolonien. Sie wurden nicht mehr als mögliches Siedlungsgebiet in Betracht gezogen. Bezüglich des Siedlungsraums wurde die Ideologie vom ‚Lebensraum im Osten‘ propagiert. Die Kolonien sollten als Rohstofflieferant für den deutschen Markt dienen.[7] 

Bild: Sarah Huber mit Genehmigung des Stadtarchivs Reutlingen.
Bild: Sarah Huber mit Genehmigung des Stadtarchivs Reutlingen.

Horst Gies beschreibt Hitlers Verständnis von Geschichte als „einen Behauptungskampf um Leben und Tod der Völker“[8]. Geschichte sollte eigenes Handeln rechtfertigen und als Werkzeug gegen politische Feinde eingesetzt werden. „Diese Indienstnahme von Geschichte als politisches Instrument zur Legitimation des Regimes und seiner Zielsetzung wurde auch auf den Geschichtsunterricht übertragen. Er sollte vom Denk- bzw. Gesinnungsfach zur ‚völkischen Weihestunde‘ umfunktioniert werden, in der der Lehrer als mitreißender Erzähler nicht Wissen, sondern Erlebnisse zu vermitteln hatte.“[9]

 

Kolonialismus in der Schule zur Zeit des Nationalsozialismus

Im April 1934 erhielten die Schulen von der Ministerialabteilung für die höheren Schulen ein vertrauliches Schreiben zum Thema der Kolonialwerbung. Von der Reichspropagandastelle Württemberg-Hohenzollern wurde eine Erklärung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda (Joseph Goebbels) an das Kultministerium weitergereicht, die eine scharfe Verurteilung der Kolonialwerbung im Sinne der Förderung einer Besiedlung afrikanischer Gebiete beinhaltete. Das Ministerium stellte drei Richtlinien für die Kolonialwerbung auf:

 

„1. Bekämpfung der Kolonialschuldlüge und des durch sie begründeten grundsätzlichen Ausschlusses Deutschlands von überseeischem Kolonialbesitz.

2. Werbung für die Forderung bedingungsloser Rückgabe unserer geraubten Schutzgebiete oder eines ausgleichenden Ersatzes.

3. Zukünftiger überseeischer Kolonialbesitz soll zur Gewinnung von Rohstoffen und Kolonialerzeugnissen für die deutsche Wirtschaft und nicht als Siedlungsland für den deutschen Bauern dienen.“[10]

 

Jegliche weitere Werbung wurde verboten. Das Schreiben endete mit der Aufforderung, die Anweisungen auch im Unterricht umzusetzen. Noch deutlicher wird der Einfluss der Politik auf die Schulen in Bezug auf den Kolonialismus in einem Schreiben von 23. Mai 1939. Als Betreff wurde die „Bezeichnung der deutschen Kolonien“[11] angegeben. Es wurde verboten, Wendungen wie ‚frühere‘ oder ‚ehemalige‘ deutsche Kolonie zu verwenden. Im Unterricht sollte deutlich zu erkennen sein, dass Deutschland die unter Mandatsverwaltung stehenden Kolonien weiterhin als Eigentum betrachtete. Es sollte, wenn, dann von „deutschen unter Mandatsverwaltung stehenden Kolonien […]“[12] gesprochen werden, „[…] soweit ein solcher Zusatz nicht überhaupt entbehrlich ist.“[13] Besonders die Lehrer für Erdkunde und Geschichte sollten „zwecks sorgfältiger Durchführung“[14] an den Erlass erinnert werden. 

Bild: Sarah Huber mit Genehmigung des Stadtarchivs Reutlingen.
Bild: Sarah Huber mit Genehmigung des Stadtarchivs Reutlingen.

‚The German Colonial Demand‘

Doch nicht nur in diesen Fächern spielte das Thema Kolonialismus eine Rolle. Für die Reifeprüfung an der Friedrich-List-Oberschule Reutlingen im Fach Englisch 1939 stammte einer der Texte für die Übersetzung aus dem Buch Germany under the Treaty des britischen Journalisten und Historikers William Harbutt Dawson. Dawson war ausgewiesener Deutschlandexperte und nahm unter anderem als Mitglied der britischen Delegation an den Friedensverhandlungen in Versailles teil.[15]

 

Dawson betonte in diesem Auszug die guten Leistungen der Deutschen mit Fokus auf die Kolonie Deutsch-Ostafrika, die zum Zeitpunkt der Publikation des Buches, 1933, unter britischer Mandatsverwaltung stand. Er betonte des Weiteren, welche Vorteile es für das britische Empire habe, wenn Deutschland „[…] should be given reasonable scope for colonial expansion […]“[16]. Diese kleinen Details zeigen deutlich, dass der Gedanke an Kolonien mit dem Versailler Vertrag nicht aus Deutschland verschwunden war. Schon während der Weimarer Republik sollten die Schulen einen Beitrag dazu leisten, den kolonialen Gedanken bei den Schülern zu stärken. Im Nationalsozialismus wurden die ministeriellen Erlasse noch deutlicher. Es ging nicht mehr nur vage um den kolonialen Gedanken – es wurden konkrete Richtlinien aufgestellt und sogar bis auf die Begriffsebene vorgegeben, wie über die ehemaligen Kolonien im Unterricht zu kommunizieren sei. Es lässt sich nicht herausfinden, welche Auswirkungen das ganz individuell auf den Unterricht einzelner Lehrpersonen, gerade der erwähnten Fächer Erdkunde und Geschichte, hatte. Doch dass sogar für den Fremdsprachenunterricht ein Text eines britischen Autors gewählt wurde, der koloniale Bestrebungen Deutschlands befürwortete, spricht eine klare Sprache.

 

Ein Beitrag von Sarah Elisabeth Huber

Fußnoten:

[1] Vgl. Gies, Horst: Antidemokratische Geschichtslehrer und antidemokratischer Geschichtsunterricht in der Weimarer Republik. In: Reinhard Dithmar; Angela Schwalb (Hrsg.): Schule und Unterricht in der Weimarer Republik. Ludwigsfelde, 2001, S. 197f.

[2] Gies, Horst: Antidemokratische Geschichtslehrer, S. 198.

[3] Vgl. Schultz, Hans-Dietrich: Geopolitik und Volksgemeinschaftsideologie im Erdkundeunterricht. Der schulgeographische Beitrag zum Versagen der staatsbürgerlichen Bildung in der Weimarer Republik. In: Reinhard Dithmar; Angela Schwalb (Hrsg.): Schule und Unterricht in der Weimarer Republik. Ludwigsfelde, 2001, S. 230.

[4] Stadtarchiv Reutlingen, Bestand Friedrich-List-Gymnasium Nr. 3268.

[5] Da im Kontext der historischen Quellen ausschließlich die männliche Version Schüler verwendet wird, wird diese auch hier durchgehend gebraucht.

[6] Das 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei vom 24. Februar 1920, via http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html (zuletzt aufgerufen: 28.02.2020, externer Link).

[7] Vgl. Hitler, Adolf: Mein Kampf, München, 1932, S. 12 und S. 467 f.

[8] Gies, Horst: Der Geschichtsunterricht im „Dritten Reich“ als völkische Weihestunde und historische Nabelschau. In: Reinhard Dithmar; Wolfgang Schmitz (Hrsg.): Schule und Unterricht im Dritten Reich. Ludwigsfelde, 2001, S. 213.

[9] Ebd. S. 213.

[10] Stadtarchiv Reutlingen, Bestand Friedrich-List-Gymnasium Nr. 3275.

[11] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Vgl. Berger, Stefan: William Harbutt Dawson: The Career and Politics of an Historian of Germany. In: The English Historical Review, Volume 116, No. 465, Oxford, 2001, S. 76-113.

Stadtarchiv Reutlingen, Bestand Friedrich-List-Gymnasium Nr. 3404.

 

Literatur:

- Berger, Stefan: William Harbutt Dawson. The Career and Politics of an Historian of Germany. In: The English Historical Review, Volume 116, No. 465, Oxford, 2001, S. 76–112.

- Gies, Horst: Antidemokratische Geschichtslehrer und antidemokratischer Geschichtsunterricht in der Weimarer Republik. In: Reinhard Dithmar; Angela Schwalb (Hrsg.): Schule und Unterricht in der Weimarer Republik. Ludwigsfelde, 2001, S. 180–213.

- Gies, Horst: Der Geschichtsunterricht im „Dritten Reich“ als völkische Weihestunde und historische Nabelschau. In: Reinhard Dithmar; Wolfgang Schmitz (Hrsg.): Schule und Unterricht im Dritten Reich. Ludwigsfelde, 2001, S. 207–230.

- Schultz, Hans-Dietrich: „Die geschlossene Nation marschiert“. Der Erdkundeunterricht im Dritten Reich zwischen Raum und Rasse. In: Reinhard Dithmar; Wolfgang Schmitz (Hrsg.): Schule und Unterricht im Dritten Reich. Ludwigsfelde, 2001, S. 231–268.

- Schultz, Hans-Dietrich: Geopolitik und Volksgemeinschaftsideologie im Erdkundeunterricht. Der schulgeographische Beitrag zum Versagen der staatsbürgerlichen Bildung in der Weimarer Republik. In: Reinhard Dithmar; Angela Schwalb (Hrsg.): Schule und Unterricht in der Weimarer Republik. Ludwigsfelde, 2001, S. 214–257.

 

Quellen:

- 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei: http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html (zuletzt aufgerufen am 28.02.2020, externer Link).

- Hitler, Adolf: Mein Kampf, München, 1932, S. 12 und S. 467f.

- Stadtarchiv Reutlingen, Bestand Friedrich-List-Gymnasium, Nr. 3268.

- Stadtarchiv Reutlingen, Bestand Friedrich-List-Gymnasium, Nr. 3275.

- Stadtarchiv Reutlingen, Bestand Friedrich-List-Gymnasium, Nr. 3404. 

 

Bilder:

Wir danken dem Stadtarchiv Reutlingen und Herrn Roland Brühl für die Bereitstellung der Dokumente und Bilder zur Veröffentlichung in diesem Beitrag. 

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