Die Frage, welche Rolle die nationalsozialistische Vergangenheit nach 1945 in Tübingen spielte, hat in den letzten Jahren stärkere Aufmerksamkeit bekommen. Das gesteigerte öffentliche Interesse an der städtischen NS-Erinnerungsgeschichte zeigte sich unter anderem in der konsequenten wissenschaftlichen und politischen Aufarbeitung der „Karriere“ des langjährigen Tübinger Oberbürgermeisters Hans Gmelin.[1] Dabei lenkt die Erkenntnis, dass Gmelin nicht trotz, sondern wegen seiner NS-Vergangenheit gewählt wurde, den Fokus von individueller Schuld auf kollektives Versagen und von der nationalsozialistischen Zeit auf ihre Nachgeschichte. Wie produktiv die Auseinandersetzung mit „lokalen Gedächtnissen“ bzw. mit städtischer Erinnerungsgeschichte nach 1945 sein kann, zeigen mithin auch die Blogbeiträge und Poster, die im Rahmen des Lehrforschungsprojekts „Zwischen Verdrängen und Erinnern: Tübingens Umgang mit dem Nationalsozialismus“ entstanden sind.
Von der bundesdeutschen Aufarbeitungsgeschichte ausgehend beschäftigten sich die sieben Teilnehmenden fast ein Jahr
lang mit der NS-Erinnerungskultur in Tübingen, entwickelten eigene und spezifischere Forschungsfragen, spürten Quellen auf, analysierten, kontextualisierten und interpretierten – kurz: sie
vollzogen den historischen Forschungsprozess. Begleitend dazu besuchte die Gruppe mit dem Universitätsarchiv und der Zentralen Stelle für die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen in
Ludwigsburg zwei geschichtskulturelle Institutionen, die für das Thema von zentraler Bedeutung sind. Schließlich wurden die einzelnen Forschungsarbeiten in zwei Formate überführt: einerseits
gestalteten die Teilnehmenden Poster, andererseits verfassten sie Blogbeiträge, die hier nun in den kommenden Wochen erscheinen.
Die folgenden Beiträge setzen sich anhand von Fallbeispielen mit der Nach- und Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus in Tübingen auseinander. Dabei werden vor allem Erinnerungsorte und Akteure in den Blick genommen, die eng mit der Stadt verflochten sind: die Hölderlingesellschaft und das Evangelische Stift, die französische Besatzungspolitik und der Veteranenkult, universitäre Einrichtungen und studentische Gemeinschaften. Den Anfang dieser Blogreihe machen zwei Beiträge, die das studentische Umfeld fokussieren. Vera Brillowski geht anhand von zwei Beispielen der Frage nach, ob bzw. inwiefern Tübinger Studentenverbindungen die NS-Vergangenheit aufarbeiteten. Patrick Schmitt wendet sich mit dem 1964 in einer Studentenzeitung erschienenen Artikel „Die braune Universität – Tübingens unbewältigte Vergangenheit“ einem Medienereignis zu, das die NS-Erinnerungskultur in Tübingen maßgeblich prägte und längst selbst zu einem lokalen Erinnerungsort geworden ist. Von den Studierenden leitet er damit direkt zu den Lehrenden über: Bei Josephine Burtey lässt sich nachlesen, inwiefern der junge Franzose René Cheval, der die Entnazifizierung der Universität umsetzen sollte, für Tübingen ein „Glücksgriff“ war. Lennart Schmarsli attestiert der Aufarbeitung hingegen erhebliche Defizite. So führt er am Beispiel der Tübinger Archäologie und Anthropologie vor, dass das belastete Lehrpersonal nach 1945 weitgehend unbehelligt blieb. Die folgenden Beiträge befassen sich mit zwei bedeutenden Tübinger Institutionen. Wilhelm Röper zeichnet in seiner Längsschnittuntersuchung nach, wie die Hölderlingesellschaft seit ihrer Gründung 1943 von Beginn an darauf ausgerichtet war, den schwäbischen Dichter politisch zu instrumentalisieren. Richard Kneer untersucht anhand von Predigten und Berichten ehemaliger Stiftler die Verstrickungen des Evangelischen Stifts vor und nach 1945. Marcel Alber demonstriert schließlich am Beispiel der Tübinger Veteranen(treffen) ein eindrückliches Beispiel für eine Erinnerungspraxis, die sehr lange vor allem um sich selbst kreiste.
In der Gesamtschau ergibt sich ein dichtes Netz aus Querverbindungen und Verweisen.[2] So etwa zeigt sich bei fast allen, dass die „langen“ 1960er Jahre in erinnerungskultureller Hinsicht parallel zur bundesdeutschen Entwicklung auch in Tübingen eine Wende markierten,[3] die weniger „von oben“ als aus der Mitte der Gesellschaft kam und häufig in den lokalen Medien vorangetrieben wurde. Darüber hinaus kristallisiert sich sehr deutlich heraus, dass Oberbürgermeister Hans Gmelin bei Weitem nicht der einzige Tübinger Amts- und Würdenträger war, der seine Karriere trotz (oder wegen) einer belasteten Vergangenheit fortführen konnte. Und nicht zuletzt machen die Beiträge auch klar, dass die Auseinandersetzung mit NS-Erinnerungskultur in Tübingen noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist.
Ein Beitrag von Barbara Hanke
Lesen Sie in den kommenden Wochen folgende Beiträge aus dem Lehrforschungsprojekt:
2. NS-Diskurse und „1968“ in Tübinger Studentenverbindungen – Wege zu neuem Selbstverständnis. Teil 2: Normannia. Zeitfenster der Liberalisierung? (Vera Brillowski)
3. Professoren im Zwielicht: Studentische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit (Patrick Schmitt)
4. Französische Besatzung in Tübingen (1/2) – Französische Kulturpolitik als Werkzeug der Entnazifizierung (Josephine Burtey)
5. Französische Besatzung in Tübingen (2/2) – René Cheval: diplomate culturel? (Josephine Burtey)
6. Gustav Rieks Wiedererlangung der venia legendi (Lennart Schmarsli)
7. Was die Dichter aber stiften, entscheidet der Staat! Schlussstrichdenken in der Hölderlingesellschaft (Wilhelm Röper)
8. Karl Fezer: ein umstrittener Stiftsephorus (Richard Kneer)
9. Krieg! … in der Leserbriefspalte? Veteranenkult in Tübingen nach 1945 (Marcel Alber)
Nachweise und weiterführende Literatur:
Hans-Otto Binder/Martin Ulmer/Daniela Rathe/Uta Röck (Hrsg.): Vom braunen Hemd zur weißen Weste? Vom Umgang mit der Vergangenheit in Tübingen nach 1945 (Kleine Tübinger Schirften; Heft 38), Tübingen 2011.
Manuela Homburg/Michael Homburg (Hrsg.): Deutungskämpfe – die „zweite Geschichte“ des Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 2024.
Niklas Krawinkel: Belastung als Chance. Hans Gmelins politische Karriere im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland (Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Bd. 2), Göttingen 2020.
Andreas Pilger/Robin Richterich (Hrsg.): Umkämpft, verhandelt, ausgegrenzt. Dissonantes Erinnern an den Nationalsozialismus und seine Folgen, Frankfurt/Main 2023.
Wolfgang Sannwald: Schwierig erinnert in Tübingen, in: Sigrid Hirbodian/Tjark Wegner (Hrsg.): Tübingen. Aus der Geschichte von Stadt und Universität (landeskundig. Tübinger Vorträge zur Landesgeschichte; Bd. 4), Ostfildern 2018, S. 285–328.
Benigna Schönhagen: Stadt und Universität Tübingen in der NS-Zeit, in: Urban Wiesing (Hrsg.): Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 731–758.
Malte Thießen: Das kollektive als lokales Gedächtnis: Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik, in: Harald Schmid (Hrsg.): Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis (Formen der Erinnerung; Bd. 41), Göttingen 2009, S. 159–180.
Bild:
Collage: Für die Herkunft/Rechte der einzelnen Bilder, siehe Angaben auf der Collage.
Fußnoten:
[1] Niklas Krawinkel: Belastung als Chance. Hans Gmelins politische Karriere im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland (Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Bd. 2), Göttingen 2020.
[2] Vgl. Malte Thießen: Das kollektive als lokales Gedächtnis: Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik, in: Harald Schmid (Hrsg.): Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis (Formen der Erinnerung, Bd. 41), Göttingen 2009, S. 159-180, hier S. 160.
[3] Vgl. u.a. Frank Bösch: Deutungskämpfe. Öffentliche Auseinandersetzungen um den Holocaust und die NS-Verbrechen seit 1945, in: Manuela Homburg/Michael Homburg (Hrsg.): Deutungskämpfe – die „zweite Geschichte“ des Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 2024, S. 35-53, hier S. 38ff.
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